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Mucksmäuschentot

Mucksmäuschentot

Titel: Mucksmäuschentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gordon Reece
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den geraden Teil der Einfahrt erreichten, stellten wir fest, dass sich das Tempo des Mannes dramatisch verlangsamt hatte. Er hinkte nur noch. Zwanzig Meter bis zum Tor und der sicheren Straße.
    Mum und ich holten rasch auf. Er drehte sich um, als er uns hörte. Sein Gesicht war schwarzrot verfärbt wie Blut in einem Teströhrchen. Er wollte schreien, seine Lippen zogen sich bedrohlich zurück, doch er war so außer Atem, dass er kein Wort herausbrachte. Er stieß nur Grunzlaute hervor. Sein Gesicht war schweißüberströmt, und er musste ständig die Finger an die Nase drücken, damit seine Brille nicht herunterfiel. Dann wandte er sich wieder zum Tor, der Ziellinie, die er verzweifelt erreichen wollte. Er kam kaum noch voran, lief praktisch auf der Stelle, und jetzt wusste ich, dass wir ihn erwischen würden, bevor er auf der Straße war.
    Als wir ihn fast erreicht hatten, kicherte ich los. Ich war erregt und konnte kaum den Augenblick abwarten, in dem Mum den fetten Mann endlich erschießen würde. In jenen letzten Sekunden rannte ich mit flatterndem Bademantel barfuß über den Kies und spürte etwas, das ich nie zuvor gespürt hatte. Ein völlig neues Gefühl, ein befreiendes, süßes Frohlocken, das meinen Körper wie eine Droge durchströmte. Es war, als würde alles Künstliche von meinem Leben abfallen, als rührte ich flüchtig an eine primitive Wahrheit, eine Realität, die älter als das Leben war. Ich kam mir vor wie ein Gigant, wie ein
Gott
!
    Und dann waren wir so nah dran, dass ich nach seinem schmutzigen T-Shirt hätte greifen können. Mum hielt noch immer ihre Seite umklammert. Sie streckte die Waffe aus, bis sie nur wenige Zentimeter von dem fetten Nacken des Mannes entfernt war, und drückte ab.
    Der Schuss war so laut, dass ich ihn mehr spürte als hörte, ein vibrierender Donner tief in meiner Brust, und dann stürzte der fette Mann wie ein gefällter Baum vornüber auf den Kies.

42
    Mum wollte die Pistole wieder sichern, aber ihre Hände zitterten zu sehr. Es schien ewig zu dauern, bis es ihr gelang, dann schob sie die Waffe vorsichtig in ihre Bauchtasche.
    Ich war von der Verfolgungsjagd erschöpft. Meine Lungen brannten, und ich atmete in schnellen, keuchenden Stößen. Ich setzte mich auf einen der großen, weiß gestrichenen Steinbrocken am Rande der Einfahrt, stützte den Kopf in die Hände und konzentrierte mich auf meinen Atem. Die Vögel, die von den Schüssen aufgeschreckt worden waren, sammelten sich wieder in den Baumwipfeln und zwitscherten, als diskutierten sie erregt über die jüngste Wendung in dem Drama, das sich unter ihnen abspielte. Ich schaute auf meine Füße. Sie waren schwarz vor Dreck und mit zahllosen Schrammen und Schnitten übersät.
    Ich brach als Erste das Schweigen.
    »Meinst du, jemand hat die Schüsse gehört? Sie waren so
laut

    Mum murmelte etwas Unverbindliches. Sie umkreiste die gewaltige Leiche des Erpressers, die wie ein gestrandeter Wal in der Einfahrt lag. Er musste tot gewesen sein, bevor er auf den Boden schlug, denn er hatte nicht einmal die muskelbepackten Arme ausgestreckt, um den Sturz zu bremsen. Jetzt lagen sie unter den üppigen Speckfalten seines Bauches begraben.
    Mum kniete sich hin und hielt zwei Finger an seinen Hals.
    »Kein Puls«, sagte sie leise, als wollte sie ihn nicht wecken. »Er ist mausetot.«
    Ich rührte mich nicht. Sicher, wir mussten die Leiche schnell wegbringen, da sie von der Straße aus zu sehen war, doch zuerst musste ich mich noch ein bisschen ausruhen. Ich musste wieder zu Atem kommen und verarbeiten, was gerade passiert war, sonst würde ich zusammenbrechen. Ich wusste auch nicht, ob ich den nächsten Schritt durchhalten würde – die Entsorgung der Leiche, die Entsorgung des Wagens.
    »Das ist komisch«, hörte ich Mum sagen.
    »Was?«
    »Komm mal her. Hilf mir, ihn umzudrehen.«
    Ich stand zögernd auf und ging zu ihr. Sie beugte sich über die Leiche und ergriff die rechte Schulter, während ich den Bund der grauen Jogginghose festhielt. Gemeinsam zogen wir. Es war anstrengend, doch ab einem bestimmten Punkt kippte die Leiche des fetten Mannes mühelos herum und fiel auf den Rücken. Ich wischte mir hektisch die Hände am Bademantel ab. Sie hatten etwas Nasses berührt, ganz sicher.
    Der fette Mann hatte beim Sturz die Brille verloren, und ohne sie sah sein Gesicht anders aus, seltsam nackt, irgendwie nichtssagend. Er hatte die Augen geschlossen, und im Tod war der boshafte Zorn verschwunden, mit dem er über

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