Mueller und die Tote in der Limmat
der Sommer hoch, kein bisschen von Abkühlung, Hitze steht, fünfzehn Uhr, und der Müller zieht an der Zigarette, behält Giftluft unten, atmet mit etwas weniger Gift drin aus, weil Gift bleibt drin, aber tut gut, sagen dir alle Raucher, und der Müller ist Raucher mit Leidenschaft und raucht gern. Das sagt natürlich nicht der Müller selbst, das spricht aus ihm der Suchtstoff und Niktotinteufel in der Zigarette, ganz heimtückisch.
Und heimtückisch ist das Wort: In Zürich geschehen Morde. Genau genommen: einer hier bei uns und blanke sechs bestätigt auswärts. Vermutlich besteht eine Verbindung, weil persönlich höchst wahrscheinlich verquickt. Das ist schon unfassbar, obwohl wir in Zürich natürlich keine Engel sind. Wir sind auch Menschen. Sie und ich und du dort in Altstetten, ihr alle innerhalb der paradiesischen zwölf Stadtkreise, und der Müller und Manfred und Rockmanager Johnny Maurer und Plattenfirmenmann Holderegger und Musikjournalist Michael Hauser und Feuilletonboulevardmusikchef Toby F. Hubacher und wer sonst noch so vorkommt. Auch die Polizei sind Menschen: Bucher Manfred, der Müller Beni, wo jetzt gerade nicht qua Arbeitsleistung Polizeilohnempfänger. Auch Dr. Brenda Marquardt, die Pathologin am Kongress in Hamburg, ist ein Mensch. Auch Sie, liebe Leserin, lieber Leser, und ich, sind wir es. Auch alle Verbrecher sind, obschon es manchmal schwerfällt. Und auch die sechs von Spitfire in der Schlucht beziehungsweise inklusive Sandra Molinari in der smaragdgrünen Limmat mit eingerechnet sieben toten Opfern sind Menschen. Das liegt an der Hitze, dass dem Müller das Gehirn flimmert. Denn bei der jetzigen Lufttemperatur weiss der Müller gar nicht mehr so genau, wer alles vorkommt und in welcher Rolle.
Ich bin überarbeitet, denkt der Müller, obwohl freiwillig suspendiert. Die Temperatur kocht mir das Gehirn weich. Was ist in so einem Fall medizinisch angebracht? Wird’s jetzt völlig psychedelisch?
Nein, es ist einfach viel zu heiss in Zürich. Die Fünfunddreissig-Grad-Marke bläst zur Attacke auf Zellen und Hirne und Hypophysen und Synapsen. Das verkraftest du nur als Kamel oder Käseküchlein, und wer ist schon eines?
Neuer Versuch, die Müllergedanken zu ordnen:
Und Mark Huber, ist er ein ehemaliger (?) Liebhaber von Sandra?
Und Mark Huber, er sei ein «Schwein», sagte Rockmanager Johnny Maurer.
Und mutmasslich und von Johnny Maurer dahingehend identifizierte Mark-Huber-Schüsse auf Johnny und den Müller, als Johnny und der Müller in Johnnys Küche sassen. Sie wissen es → Mark Huber ist sehr verdächtig. Wer Schusswaffen anwendet, so ihm denn jene Tat zuzuschreiben und zu beweisen ist (bisher ja erst Aussage von Johnny Maurer), ist möglicherweise auch fähig zu noch Schlimmerem.
Und bevor der Müller in eine Zeitschleife hineingerät, in der er unablässig im Kreis gedreht würde, reisst ihn das Klingeln des Mobiltelefons aus dem fruchtlos untätigen Grübeln.
Es ist Bucher Manfred. Er spricht: «Der Chef und sein Chef, dessen Chef und sogar der Polizeivorstand haben beschlossen: Die dringende Fahndung ist per sofort eingeleitet. Gefahr im Verzug. Ich melde mich.»
Und unterbricht die Verbindung.
«Danke für den Fahndungsbefehl, Manfred», sagt der Müller am Telefon, aber Bucher ist schon nicht mehr da. Er holt gerade die Weste aus dem Kofferraum.
«Gefahr im Verzug» – aber hoppla.
Das ist nun wirklich das Nonplusultra. Das heisst, alle Streifenwagen füllen ihre Tanks und Magazine und brausen los. Wer im Dienst ist, schnallt sich die Schutzweste um, kontrolliert Magazin und Ersatzmagazine. Klick, klick, rasten die Patronen ein. Schnürt sich die Stiefel. Der Einsatzleiter ruft alle, die nicht in den Ferien oder im Mutterschaftsurlaub sind, auf ihren Posten. Sofort. Sie schwärmen ein. Überall, in allen zwölf Stadtkreisen und noch mehr Landgemeinden und Kleinstädten des Speckgürtels um die wohlhabende Stadt Zürich, klingeln Telefone. Festnetz und Mobil. Männer und Frauen lassen im Schrebergarten die Hacke fallen, schalten die Fernbedienung aus, rollen das Badetuch zusammen, legen die Playstation in die Ecke und schliessen das Buch, in dem sie gerade lesen. Legen die Freizeitbekleidung ab, die blaue Uniform an, ziehen den Scheitel nach, putzen (bei Bedarf) die Brillengläser, zucken die Schultern, sehen vor sich den Ernst der Lage, sagen: «Dienst ist Dienst», küssen die Frau, den Mann, die Kinder, den eingetragenen Partner beziehungsweise die eingetragene
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