Muenchen Blues
ich ihn getroffen hatte, war nicht mit Sicherheit zu sagen.
Klarer wurde ich erst wieder, als die Scheinwerfer erneut aufflammten. Ich sah den bucklig nach vorne gebeugten massigen Mann zum Hoftor stolpern. Mehr wollte ich im Moment gar nicht wissen, ich war einfach erleichtert und nahm den Weg in die andere Richtung. Es war besser, weiter am Leben zu bleiben, als die Verfolgung aufzunehmen.
39
Wie ein Betrunkener torkelte ich zu meinem Laden. Schon als ich kurz davor war, begann mein Puls zu fliegen. Panik kam wieder hoch. Der Normalbetrieb, der oben in meine Birne allmählich einzukehren begann, ließ mich nicht nur meine Schmerzen heftiger spüren, er machte mir auch glasklar, dass ich in meinen vier Wänden nicht sicher war. Traublinger war so gefährlich wie eine Granate, deren Zünder bereits scharf gemacht war. Sobald er wieder halbwegs bei Sinnen und Kräften war, würde er versuchen, mir den Hals erneut umzudrehen. Ich musste die Nacht außerhalb verbringen. Aber wo?
Zunächst einmal verrammelte ich meine Bude, zog den Rollladen vor dem Schaufenster herunter und machte alle Läden dicht. Dann kramte ich meinen Schlafsack hervor, holte eine Flasche Schnaps aus meinem Notvorrat und bestieg meinen Bus. Etwas Besseres, als mir einen ruhigen Parkplatz zu suchen, um mich nach hinten auf die Ladefläche schlafen zulegen, fiel mir nicht ein. Im Rückspiegel sah ich den blutigen Ring um meinen Hals. Geschwollen rot, Hautfetzen und dazwischen die leicht verkrustete Schnittlinie.
Ich hatte in meinem Leben schon genug Scheiße gebaut, aber das hier war kein Pfadfinderabenteuer mit der Mutprobe, allein draußen im Freien zu übernachten. Es wäre wohl am besten, wenn ich zunächst eine Ambulanz aufsuchte, um mich verarzten zu lassen.
Weit muss unsereiner nicht fahren, das Klinikviertel befindet sich direkt auf der anderen Seite der Lindwurmstraße. Ich tippte auf die Chirurgie, bei der ich einzuchecken hatte.
Ein junger, schüchterner Arzt nahm mich in Empfang. Ich sagte, ich sei durch die Fensterscheibe geflogen und hätte versucht, den Kopf dann wieder herauszuziehen. Das sei gründlich schiefgegangen. Er lächelte mich verständnisvoll an. Dann pinselte, salbte und verband er so geschickt und gefühlvoll, dass ich alle Schmähungen widerrief, die ich je gegen Ärzte und insbesondere ihre jungen Kollegen ausgestoßen hatte. Seine anteilnehmende Wärme tat mir so gut, dass ich mich aufgerufen fühlte, seine Besorgnis zu dämpfen.
– Manchmal bietet das Leben schmerzhafte Überraschungen, sagte ich. Aber einen alten Kämpfer haut das nicht dauerhaft um.
Er tätschelte meine Hand, als sei ich seine Erbtante.
– Ein wichtiger Gedanke! Aufgeben darf man nie, das sollten Sie sich merken. Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der morgendliche Schimmer eines neuen Tages schon sehr nahegerückt.
Viele Ärzte schreiben Gedichte, chronisch kunstsinnig sind sie ohnehin. Aber bei ihm hatte man das Gefühl, an einenjungen Kaplan geraten zu sein. Womöglich hatte er eine Zusatzausbildung in diakonischer Betreuung absolviert. Heutzutage wird hypnotisiert, akupunktiert, gependelt – das ist billig und macht den Patienten glücklich.
Er ließ nicht nach, und wir bogen nach und nach in eine seltsame therapeutische Interaktion ein. Er fragte nach meiner Familie, meinem Job, meiner Freundin. Oder wo es denn sonst hake?
– Man muss jeden Kelch bis zur Neige leeren, auch wenn das verdammt schwerfällt. Der Mensch darf nie verzweifeln.
Manche offenbarten ungewöhnliche Passionen. Sein Hobby war eben die pastorale Seelenkunde. Sollte er nur, ich wollte mich da nicht weiter einmischen. Auch ein gemeinsames Abendgebet würde ich ihm nicht vorschlagen, denn ich wusste die ruhigen und sicheren Griffe an mir sehr zu schätzen. Nachdem alles so weit fertiggestellt war, erhob ich mich, bedankte mich und reichte ihm die Hand. Da huschte er hinter seinen Schreibtisch, machte ein Zeichen, dass ich mich noch einmal kurz setzen solle, und telefonierte. Offenbar kam er nicht durch.
– Tja, sagte er, die Kollegen sind nicht erreichbar. Da haben wir ein Problem.
– Dann wünsche ich viel Glück und weiterhin gute Verrichtung.
Wieselflink sprang er auf und stellte sich vor die Tür. Die Geste war klar, nur über seine Leiche durfte ich die Ambulanz verlassen.
– Herr Gossec, hören Sie mir zu. Ich darf Sie nicht gehen lassen. Eine weitere Suizidgefährdung ist bei Ihnen nicht auszuschließen.
Das war es also. Er hatte mir meine
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