Münsterland ist abgebrannt
ihr selbstbestimmtes Leben zu Ende ging, sie in ein graues Nirgendwo hinüberdämmerte? Daran, dass Mia und ihm so etwas bevorstand, hatte Bastian bislang keinen Gedanken verschwendet. Und jetzt, wo der Gedanke da war, verursachte er ein beklemmendes Unbehagen. Er versuchte erneut, seine Schwester zu erreichen. Keine Verbindung.
Mittlerweile war längst die Dämmerung hereingebrochen. Ließ es sich verantworten, noch länger zu warten – oder musste er Hilde als vermisst melden und dafür sorgen, dass eine Hundertschaft Bereitschaftspolizisten in Marsch gesetzt wurde? Seine Hoffnung, dass sie in der Zwischenzeit ohne fremde Hilfe zurückgekehrt war, erledigte sich in dem Moment, als er aus dem Auto stieg und dem fragenden Blick von Frau Kemminger begegnete. Er schüttelte den Kopf. «Nichts. Wo könnte sie noch sein? Denken Sie nach!»
«Was glauben Sie wohl, was ich mache?»
«Entschuldigung. Das sollte kein Vorwurf sein.»
Die alte Frau drehte sich um. Hinter dem Häuschen von Bastians Mutter ragte eine grüne Wand auf. Das
Herrenholz
, kein großes Waldgebiet für jemanden, der aus dem Sauerland oder dem Schwarzwald stammte, aber für münsterländische Verhältnisse recht beachtlich.
«Geht sie manchmal in den Wald?»
«Eigentlich nicht …»
Noch eine halbe Stunde, sagte sich Bastian. Falls ich sie bis dahin nicht gefunden habe, müssen die uniformierten Jungs und Mädels ran. Dann wird Horstmar auf links gedreht.
Fünf Minuten vor Ende der Deadline sah er sie. Ganz entspannt saß sie auf einer Bank im Wald, neben sich die Einkaufstüte, und lauschte mit verzücktem Gesichtsausdruck den Geräuschen der Tiere, als würde sie in einem Opernsaal sitzen.
«Hilde!»
Es dauerte einige Sekunden, bis sie ihn erkannte. «Sebastian.»
Die erste Silbe seines Vornamens hatten zuerst die Freunde in der Schule gestrichen, später hatte Bastian das auch in den offiziellen Dokumenten nachgeholt. Seine Mutter mochte das bis heute nicht akzeptieren.
«Was machst du hier?»
«Ich wollte gerade nach Hause gehen.» Sie stand auf, wackelte jedoch bedenklich.
Bastian hielt sie am Arm fest. «Wir haben uns Sorgen gemacht, es ist fast zehn Uhr.»
«Ich habe mich nur ein bisschen ausgeruht. Und wen meinst du mit
wir
?»
«Frau Kemminger und mich.»
«Ach, die alte Schachtel, die soll sich um sich selber kümmern.»
Bastian nahm Hilde die Einkaufstüte ab und legte seinen Arm um ihre Hüfte.
«Ich bin nicht krank», protestierte sie, allerdings nur, um den Anschein zu wahren, denn anschließend ließ sie sich bereitwillig von Bastian führen.
|||||
Nachdem er sie im Wohnzimmersessel abgesetzt, Frau Kemminger informiert und zwei große Gläser Wasser eingeschenkt hatte, betrachtete Bastian Hilde genauer. Sie sah völlig erschöpft aus, tiefe Falten gruben sich in die bleiche Gesichtshaut, und der Oberkörper hob und senkte sich, als wäre jeder Atemzug eine Anstrengung. In den letzten Monaten schien sie um Jahre gealtert zu sein, das lebendige Gesicht mit den verschmitzt leuchtenden Augen wirkte merkwürdig starr. Das war nicht mehr die Frau, die ihn mit ihrer mütterlichen Fürsorge genervt hatte, mit ihren Fragen nach seiner beruflichen Zukunft, nach einer Schwiegertochter und zu erwartenden Enkeln. Das Mutter-Sohn-Verhältnis hatte sich umgekehrt, jetzt war er der Erwachsene. Und das machte ihm Angst.
Bastian leerte sein Glas in einem Zug, Hilde nahm nur einen kleinen Schluck.
«Wie viel hast du heute getrunken?»
Sie dachte nach. «Ich trinke immer morgens zwei Tassen Kaffee und mittags eine.»
«Sonst nichts?»
«Ich habe keinen Durst.»
«Trinken musst du trotzdem. Sonst dehydrierst du, besonders bei diesem heißen Wetter.»
Ihre Lippen wurden schmal. «Ich weiß, das sagt mein Arzt auch.»
«Aber du hältst dich nicht daran. Sonst hättest du jetzt keine Kreislaufstörungen.»
«Habe ich gar nicht, ich bin nur müde. Hol mir bitte meine Tabletten, sie liegen in der Küche auf dem Schrank.»
Bastian fand die Tablettenpackung sofort. Er kannte weder das Medikament
Bochera
noch die Firma, die es produzierte. Als er zurückkam, drückte er eine Pille aus der Verpackung und reichte sie seiner Mutter. «Was ist das?»
«Hat mir mein Arzt empfohlen. Es stärkt Körper und Geist, sagt er. Damit ich …» Sie schluckte die Pille und nahm einen tiefen Schluck aus dem Wasserglas. «Siehst du, ich trinke.»
«Damit du dich nicht verläufst», führte Bastian ihren Satz zu Ende. «So wie neulich.»
«Woher
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