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Muensters Fall - Roman

Muensters Fall - Roman

Titel: Muensters Fall - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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ihn in keiner Weise an ihre übergewichtige Schwester. Eher an ihre Mutter, dünn und sehnig, wie er sie unter dem weiten, hellblauen Krankenhauskittel erahnen konnte. Etwas krumm im Rücken, mit langen, mageren Armen und einem vogelähnlichen Gesicht. Schmale Nase und bleiche, dicht zusammenstehende Augen.
    Sie saß an einem Tisch in einem ziemlich großen Raum und malte mit Wasserfarben auf einem Block. An einem anderen Tisch saßen zwei andere Frauen und waren mit irgendeiner Art Batikdruck beschäftigt, soweit Münster das einschätzen konnte. Die Schwester verließ ihn, und er setzte sich Irene Leverkuhn gegenüber. Sie sah ihn einen Moment lang an, dann widmete sie sich wieder ihrer Beschäftigung. Münster stellte sich vor.
    »Ich kenne Sie nicht«, sagte Irene Leverkuhn.
    »Nein«, bestätigte Münster. »Aber vielleicht können Sie sich ja doch ein wenig mit mir unterhalten?«
    »Ich kenne Sie nicht«, wiederholte sie.

    »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich hinsetze und Ihnen eine Weile beim Malen zusehe?«
    »Ich kenne Sie nicht. Ich kenne alle hier.«
    Münster schaute auf das Bild. Blau und Rot in breiten, zerfließenden Formen, sie benutzte zu viel Wasser, das Papier wellte sich schon. Es sah ungefähr so aus wie bei seiner eigenen Tochter, wenn sie dieser Tätigkeit nachging. Er bemerkte, dass die bereits benutzten Seiten des Blocks ebenso aussahen.
    »Gefällt es Ihnen hier im Gellnerhemmet?«, fragte er.
    »Ich wohne in Nummer zwölf«, sagte Irene Leverkuhn.
    Ihre Stimme klang leise und vollkommen tonlos. Als spräche sie in einer Sprache, die sie selbst nicht verstand.
    »Nummer zwölf?«
    »Nummer zwölf. Das andere Mädchen heißt Rebecka. Ich bin auch ein Mädchen.«
    »Bekommen Sie oft Besuch?«, fragte Münster.
    »In Nummer dreizehn wohnen Liesen und Veronica«, sagte Irene Leverkuhn. »Liesen und Veronica. Nummer dreizehn. Ich wohne in Nummer zwölf. Rebecka wohnt auch in Nummer zwölf. Zwölf.«
    Münster schluckte.
    »Bekommen Sie oft Besuch von Ihrer Familie? Ihrer Mutter, Ihrem Vater und Ihren Geschwistern?«
    »Ich male«, sagte Irene Leverkuhn. »Es wohnen nur Mädchen hier.«
    »Ruth?«, fragte Münster. »Ist sie häufiger hier?«
    »Ich kenne Sie nicht.«
    »Wissen Sie, wer Mauritz ist?«
    Irene Leverkuhn antwortete nicht.
    »Mauritz Leverkuhn. Ihr Bruder.«
    »Ich kenne alle hier«, sagte Irene Leverkuhn.
    »Wie lange ist es her, dass Sie hierher gekommen sind?«, fragte Münster.
    »Ich wohne in Nummer zwölf«, sagte Irene Leverkuhn.
    »Gefällt es Ihnen, hier mit mir zu sitzen und sich zu unterhalten?«

    »Ich kenne Sie nicht.«
    »Können Sie mir sagen, wie Ihre Mutter und Ihr Vater heißen?«
    »Wir stehen um acht Uhr auf«, sagte Irene Leverkuhn. »Aber wir dürfen noch bis neun liegen bleiben, wenn wir wollen. Rebecka bleibt immer bis neun liegen.«
    »Wie heißen Sie?«, fragte Münster.
    »Ich heiße Irene. Irene heiße ich.«
    »Haben Sie Geschwister?«
    »Ich male«, sagte Irene Leverkuhn. »Das mache ich jeden Tag.«
    »Sie malen schön«, sagte Münster.
    »Ich male rot und blau«, sagte Irene Leverkuhn.
    Münster blieb noch eine Weile sitzen und sah zu, wie sie das Bild vollendete. Als sie fertig war, betrachtete sie es gar nicht. Blätterte einfach nur das Blatt auf dem Block um und begann von vorn. Sie hob nie den Blick und schaute ihn nicht an, und als er aufstand und sie verließ, schien sie sich dessen gar nicht bewusst zu sein.
    Geschweige denn zu wissen, dass er überhaupt da gewesen war.
     
    »Eines der Probleme«, bemerkte die Fürsorgerin deBuuijs, als Münster wieder in ihrem Büro saß, »ist ja gerade, dass es ihr gut geht. Vielleicht ist sie wirklich einfach nur glücklich. Sie ist sechsundvierzig Jahre alt, und, ehrlich gesagt, kann ich sie mir nicht draußen als funktionierendes Mitglied der Gesellschaft vorstellen. Oder können Sie das?«
    »Ich weiß nicht so recht ...«, sagte Münster.
    Fürsorgerin deBuuijs betrachtete ihn einen Moment mit ihrem üblichen freundlichen Lächeln.
    »Ich weiß, was Sie denken«, sagte sie dann. »Kühe und Hühner und Schweine sind ja auch glücklich. Oder zumindest zufrieden... bis wir sie schlachten wenigstens. Wir erwarten einfach ein wenig mehr von dem so genannten Menschenleben. Oder?«

    »Stimmt«, sagte Münster. »Das tun wir wohl.«
    »Irene ist nicht immer so gewesen«, fuhr deBuuijs fort. »Aber seit sie erkrankt ist, hat sie sich in ihre kleine, wohlvertraute Welt eingekapselt, doch auch schon

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