Muensters Fall - Roman
schüttelte den Kopf.
»Sie hat nicht so viele Freundinnen. Außerdem hätte sie angerufen, es ist ja schon mehr als einen halben Tag her ...«
»Und keinerlei Nachricht?«, wunderte Moreno sich.
»Nein.«
»Sie ist früher nie mal auf diese Art verschwunden?«
»Nie.«
»Haben Sie im Krankenhaus angerufen? Es könnte doch sein, dass ihr irgendwas zugestoßen ist ... ein kleinerer Unfall, es muss ja gar nichts Ernsthaftes sein.«
»Ich habe im Rumford und im Gemejnte angerufen. Sie
wussten auch nichts, und außerdem hätte sie sich dann doch auch gemeldet.«
»Es gab keine Unstimmigkeiten zwischen Ihnen, oder? Hatten Sie vielleicht Streit ...?«
»Wir streiten uns nie.«
»Was hatte sie an?«, warf Münster ein.
Arnold Van Eck sah ihn verblüfft an.
»Warum fragen Sie das?«
Münster seufzte.
»Haben Sie nicht daran gedacht?«, erklärte er. »Ist zum Beispiel ihr Mantel weg? Hat sie irgendeine Tasche mitgenommen ... ja, wenn Sie das noch nicht kontrolliert haben, dann sind Sie doch so gut und tun das jetzt.«
»Entschuldigen Sie mich«, sagte Van Eck und eilte hinaus auf den Flur. Sie konnten ihn zwischen Bügeln und Schuhen rumoren hören, dann kam er zurück.
»Ja«, sagte er, »Mantel und auch Hut sind weg ... und die Handtasche.«
»Dann ist sie also auf jeden Fall rausgegangen«, stellte Moreno fest. »Können Sie noch nachgucken, ob sie noch eine andere Tasche mitgenommen hat? Außer der Handtasche, meine ich.«
Es dauerte wieder einige Minuten, bevor Van Eck diese Frage untersucht hatte, aber als er zurückkam, war er sich seiner Sache vollkommen sicher.
»Keine weitere Tasche«, sagte er. »Reisetasche und Einkaufstasche stehen beide in der Garderobe. Und sie ist auch nicht unten im Keller gewesen. Ich weiß außerdem, dass sie nach ihrem Einkauf noch mal hier gewesen ist ... Sie hat die Sachen in den Kühlschrank und die Speisekammer gestellt. Milch und Kartoffeln und ein paar Konservendosen ... und den Rest. Diegermanns Kaviar, den kaufen wir immer ... die nichtgeräucherte Sorte. Mit Dillgeschmack.«
»Der ist nicht schlecht«, sagte Münster.
»Haben Sie über die Sache mit jemandem aus der Nachbarschaft geredet?«, fragte Moreno.
»Nein ...« Van Eck rutschte hin und her.
»Mit irgendwelchen Bekannten?«
»Nein, man will ja nicht, dass das herauskommt, falls ... falls da nun irgendwas dran ist. Ich meine ...«
Es kam keine Fortsetzung. Münster wechselte einen Blick mit Moreno, und offenbar war sie ganz seiner Meinung, denn sie machte eine Geste mit dem Kopf und nickte dann. Münster räusperte sich.
»Wissen Sie was, Herr Van Eck«, sagte er. »Ich glaube, das Beste ist, Sie kommen mit uns aufs Präsidium, und dann können wir das alles in Ruhe durchgehen und einen Bericht schreiben.«
Van Eck holte tief Luft.
»Das finde ich auch«, sagte er, und es war zu hören, dass er seine Stimme nicht so recht unter Kontrolle hatte. »Darf ich nur erst noch mal zur Toilette? Meine Verdauung ist von all dem hier etwas durcheinander geraten.«
»Aber bitte«, sagte Moreno.
Während sie auf ihn warteten, nutzten sie die Gelegenheit, sich in der engen Zweizimmerwohnung umzusehen. Sie barg kaum irgendwelche Überraschungen. Ein Schlafraum mit einem altmodischen Doppelbett mit Teakfurnier und hauchdünnen Gardinen in Hellblau und Weiß. Das Wohnzimmer mit Fernsehapparat, Vitrine und einer dunkel gehaltenen Sofagruppe in widerstandsfähigem Polyester. Keine Bücher außer einem Nachschlagewerk in zehn knallroten Bänden, dafür aber umso mehr Wochenzeitschriften, eine Unmenge an Landschaftsreproduktionen an den Wänden und handgemalte Porzellantöpfe auf Anrichten und Tisch. Die Küche, in der sie gesessen hatten, bot kaum für drei Personen Platz. Kühlschrank, Herd und Spültisch stammten höchstwahrscheinlich aus den späten Fünfzigern, und die Topfpflanzen im Fenster sahen aus, als wären sie gegen ihren eigenen Willen gezogen und gepflegt worden. Die Kunstblume auf dem Tisch wirkte sehr viel lebendiger. Alle Böden waren mit Teppichen unterschiedlichen
Schnitts, Farbe und Qualität bedeckt, und das Einzige, was Münster eventuell als Ausdruck eines persönlichen Geschmacks ansehen konnte, war ein ausgestopfter Giraffenkopf über der Hutablage im Flur, aber das beruhte wahrscheinlich in erster Linie darauf, dass er bis jetzt noch nie einen ausgestopften Giraffenkopf gesehen hatte.
Moreno zuckte resigniert mit den Schultern und kehrte in die Küche zurück.
»Die
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