Muensters Fall - Roman
Privatleben zu wühlen. Meinen Sie nicht, dass es langsam reicht?«
»Doch, ja«, stimmte Moreno zu. »Natürlich meine ich das auch. Aber wie schlimm es auch für Sie sein mag, wir versuchen ja nur, uns zur Wahrheit vorzuarbeiten ... das ist ja sozusagen unser Job.«
Das klang ein wenig pompös, zweifellos – sich zur Wahrheit vorzuarbeiten! –, und sie selbst war überrascht, dass ihr gerade diese Formulierung über die Lippen gekommen war. Es dauerte einen Moment, bis Ruth Leverkuhn antwortete.
»Die Wahrheit?«, sagte sie langsam und nachdenklich, während sie den Kopf drehte und ihre Aufmerksamkeit dem Himmel und der Landschaft zuzuwenden schien. »Sie wissen doch gar nicht, wovon Sie reden. Warum muss man ewig weiterbohren und etwas ausgraben, was doch nur hässlich und eklig ist? Wenn die Wahrheit eine schöne Perle wäre, ja, dann könnte ich verstehen, warum man hinter ihr her ist, aber so, wie es ist ... ja, warum sie dann nicht lieber im Verborgenen lassen, wenn es jemand geschafft hat, sie so gut zu verstecken?«
Das waren große Worte, die diese schlaffe Frau dort von sich gab, das musste auch Moreno einsehen, und auf ihrer Rückfahrt überlegte sie, was sie eigentlich zu bedeuten hatten.
Die hässliche Fratze der Wahrheit?
War das nur eine allgemeine Reflektion über eine Familie mit schlechten gegenseitigen Beziehungen und über das Gefühl der Hoffnungslosigkeit nach der endgültigen Katastrophe? Oder steckte da mehr dahinter?
Etwas Fassbareres und Konkreteres?
Als sie in der Dämmerung über die Brücke des Vierten November und Zwille nach Maardam hineinfuhr, hatte sie immer noch keine Antwort auf diese Fragen gefunden.
Nicht mehr als ein irritierendes, aber gleichwohl bombensicheres Gefühl.
Es steckte mehr hinter dieser Geschichte als das, was bisher ans Licht gekommen war. Viel mehr. Und darum gab es auch gute Gründe, mit diesen tastenden Versuchen im Dunkel weiterzumachen.
Auch wenn die Perlen schwarz und rissig waren.
26
Die Verhandlung gegen Marie-Louise Leverkuhn wurde an drei sich lang hinziehenden Nachmittagen vor spärlich besetzten Zuhörerreihen fortgesetzt.
Die einzige Person, die in irgendeiner Weise an ihrer Schuld zu zweifeln schien – zumindest deutete sie sein finsteres Mienenspiel in dieser Weise – war Richter Hart, der es sich ab und zu erlaubte, einzelne Fragen einzuwerfen, worüber sich anscheinend weder die Anklägerin noch der Verteidiger Gedanken zu machen schienen.
Und schon gar nicht sie selbst.
Ansonsten schien die Linie der Wahrheit in der Grauzone zwischen Mord und Totschlag gezogen zu werden. Ausgehend von einer Reihe schwer festzumachender Punkte wie: angemessene Zweifel, plötzliche Sinnesverwirrung, Grad der Handlungskontrolle, Zeit für Überlegungen unter den vorhandenen Umständen ... und anderen mehr.
Sie fand diese Frage reichlich unsinnig. Statt zuzuhören, während man sie durchkaute, saß sie oft da und betrachtete die Geschworenen. Diese unbescholtenen Männer und Frauen, die ihr Schicksal in ihrer Hand hielten – oder sich zumindest einbildeten, es zu tun. Da war vor allem eine der beiden Frauen, die aus irgendeinem Grund ihr Interesse geweckt hatte. Eine dunkle Frau knapp über sechzig, nicht viel jünger als sie selbst. Dünn und sehnig, aber mit einer Art Würde, die vor allem in der Art, wie sie ihren Kopf trug, zu spüren war. Aufrecht und selbstverständlich. Sie wandte fast nie ihren Blick dem zu, der gerade sprach, meistens die Staatsanwältin oder der ermüdende Bachmann, sondern schien sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Etwas Inneres.
Oder Höheres. So einer Frau, dachte Marie-Louise Leverkuhn, so einer Frau könnte ich mich anvertrauen.
Die Anklageseite hatte drei Zeugen geladen, die Verteidigung einen. Welche Funktionen die Getreuen der Anklage eigentlich
ausübten, wurde ihr nie so recht klar. Aber wenn sie es richtig verstand, so handelte es sich um einen Arzt, einen Obduzenten und einen Polizeibeamten irgendeiner Art. Ihre Zeugenaussagen dienten nur dazu, das zu unterstreichen, was man eigentlich schon zu wissen behauptete – und vielleicht war das wirklich der einzige Sinn dabei. Richter Hart stellte sogar noch ein oder zwei Fragen, die eine Öffnung in eine andere Richtung hätten bedeuten können, aber niemand schien daran besonders interessiert zu sein. Eigentlich stand nichts mehr auf dem Spiel, und die Beheizung in dem etwas kühlen Raum ließ auch einiges zu wünschen übrig. Am besten,
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