Muensters Fall - Roman
Minuten seufzte sie schwer und ließ ihre Mutter einsam zurück.
Marie-Louise Leverkuhn fand, dass es sich fast wie eine Art Sieg anfühlte, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Sicher, es war schon merkwürdig, das Ganze, aber es war nun einmal so, wie es war.
Es war gekommen, wie es hatte kommen müssen, und es war, wie es war. Nur wenige Minuten nachdem Ruth sie verlassen hatte, war sie eingeschlafen und träumte einen Traum.
Sie saß in einem Zug. Der brauste durch eine flache, eintönige Landschaft dahin, und die Geschwindigkeit war so hoch, dass man kaum etwas erkennen konnte von all dem, was vor den schmutzigen und etwas zerkratzten Fenstern Revue passierte.
Dennoch wusste sie, dass es das Leben war, was dort draußen zu sehen war. Das Leben selbst. Das in dieser rasenden Fahrt vorbeisauste. Sie saß mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, und bald wurde deutlich, dass sie immer jünger wurde, je weiter sie kamen. Ebenso erging es ihren Mitreisenden. Die junge Frau ihr schräg gegenüber war plötzlich nur noch ein kleines Mädchen, und der ältere Mann in der Ecke mit den zitternden Händen eines Greises und dem trüben Blick hatte sich bald in einen eleganten, uniformierten Jüngling mit blauen Augen verwandelt.
Eine Reise zurück durchs Leben. Bis ins Kleinkindalter setzte sich das fort, und wenn jemand im Waggon so klein geworden war, dass er oder sie wie neugeboren aussah, hielt der Zug an einem Bahnhof an. Weißgekleidete Gestalten in langen Kitteln und mit Stethoskop um den Hals kamen herein und hoben die zarten kleinen Klumpen von den schmutzigen Sitzen hoch. Ließen sie Bäuerchen machen und ein wenig schreien, nahmen die blaue Fahrkarte an sich, die alle in ihren winzigen Fäustchen hielten, und verließen den Zug mit dem Bündel über der Schulter.
Als sie an der Reihe war – es war ein außergewöhnlich großer und dicker Arzt mit Flügeln am Rücken, der sie hochhob –, hatte sie jedoch keine Fahrkarte.
»Hast du keine Fahrkarte?«, fragte der Engel (denn jetzt sah sie erst, dass es ein Engel war) sehr schroff. »Dann kannst du nicht geboren werden.«
»Danke, o vielen Dank«, lachte sie in sein rot geflecktes Gesicht. »Wenn ich nicht geboren werden kann, dann muss ich wohl auch nicht leben?«
»Hoho«, sagte der Engel kryptisch und legte sie zurück auf den Sitz.
Und dann fuhr sie bis in die Unendlichkeit weiter mit dem Zug, in die noch nicht geborene Nacht davon.
Und sie war glücklich. Als sie aufwachte, kribbelte es ihr warm im Bauch.
Nicht leben zu müssen.
Mauritz kam auch am Sonntag. Gegen halb sieben Uhr abends, gerade als die Wärterin bei ihr gewesen war und ihr Essenstablett abgeholt hatte. Er war vier Stunden lang mit dem Auto gefahren und wirkte gestresst und wütend. Aber vielleicht war es auch nur seine übliche Unsicherheit, die dahinter steckte. Sie klingelte nach Kaffee, er hatte gesagt, er hätte gern welchen, aber als der Kaffee auf dem wackligen Plastiktisch stand, rührte er ihn überhaupt nicht an.
Hatte auch Probleme, überhaupt den Mund aufzukriegen, genau wie Ruth. Das Einzige, worüber sie sich unterhielten, das waren der Alltag im Untersuchungsgefängnis und die Lage an der Kerzenmanschettenfront vor Weihnachten. Es war natürlich vorwiegend Rot und Grün gefragt. Sie hoffte nur, dass er bald gehen würde, und nach einer halben Stunde sagte sie das auch.
Vielleicht hatte er mit diesem Problem gerechnet, denn er hatte einen Brief geschrieben. Er stand auf und holte ihn aus der Innentasche seines hässlichen Blazers mit dem Emblem der Firma auf der Brusttasche. Überreichte ihn wortlos, und dann drückte er selbst auf die Klingel und wurde hinausgelassen.
Der Brief war nur eineinhalb Seiten lang. Sie las ihn dreimal durch. Dann zerriss sie ihn in kleine Schnipsel und spülte diese in der Toilettenschüssel in dem jämmerlichen Verschlag in der Ecke hinunter.
Das dauerte eine Weile. Die kleinen Papierstückchen flossen immer wieder zurück durchs Rohr, und während sie dastand und die ganze Zeit auf den Spülknopf drückte, plante sie ihr weiteres Vorgehen.
Sie rief die Wärterin wieder zu sich, bat um Papier und einen Stift, und kurz darauf saß sie am Tisch und suchte nach den richtigen Worten.
Das Einzige, was sie an ihrem Beschluss überraschte, war die Tatsache, dass er so einfach zu fassen war. Eine halbe Stunde später trank sie Tee und aß ihre Brote mit gutem Appetit, als würde das Leben sie immer noch etwas angehen.
27
Moreno
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