Muensters Fall - Roman
Geschichte?«, wiederholte Moreno.
Frau Gravenstein biss sich auf die Lippe und betrachtete ihre Hände. Es sah so aus, als würde sie mit sich selbst zu Rate gehen.
»Ein Gerücht«, sagte sie dann. »Die kursieren unter den Schülern über fast alle Lehrer. Manchmal gibt es einen realen Hintergrund, manchmal nicht. Man darf dem Ganzen nicht allzu viel Glauben schenken.«
»Und wie war das mit dem Gerücht über Else Van Eck?«, fragte Moreno.
»Eine Liebesgeschichte.«
Moreno nickte aufmunternd.
»Junge, unglückliche Liebe«, führte Krystyna Gravenstein aus. »Ein Franzose. Sie waren verlobt und wollten heiraten, aber dann verließ er sie wegen einer anderen.«
Moreno saß schweigend da und wartete ab.
»Nicht besonders spektakulär«, meinte sie dann.
»Es geht noch weiter«, erklärte Frau Gravenstein. »Laut der Legende hat sie um seinetwillen angefangen, Französisch zu studieren, und sie hat es um seinetwillen auch weitergemacht. Er soll Albert geheißen haben, und nach einiger Zeit hat er bereut,
was er getan hat. Versuchte sie zurückzukriegen, aber Else weigerte sich, ihm zu verzeihen. Als ihm klar wurde, wie die Lage war, hat er sich vor den Zug geworfen und ist gestorben. Am Gare du Nord. Hrrm ...«
»Hm«, nickte auch Moreno. »Und wann soll das passiert sein?«
Krystyna Gravenstein breitete die Arme aus.
»Keine Ahnung. Natürlich irgendwann in ihrer Jugend. Wahrscheinlich gleich nach dem Krieg.«
Moreno seufzte. Plötzlich lachte Krystyna Gravenstein auf.
»Alle müssen eine Geschichte haben«, sagte sie. »Und für die, die keine haben, muss man eine erfinden.«
Sie warf einen Blick auf die Bücherreihen, während sie das sagte, und Moreno verstand, dass es sich um ein Zitat handelte. Und dass die Worte sicher auch in Frau Gravensteins Leben eine gewisse Relevanz hatten.
Wie sieht meine Geschichte aus? dachte sie, als sie mit dem Fahrstuhl nach unten fuhr. Claus? Die Polizeiarbeit? Oder muss ich eine erfinden?
Sie erschauderte, als ihr plötzlich einfiel, dass es nicht einmal sieben Tage bis Weihnachten war und sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie die Feiertage zubringen sollte.
Vielleicht wäre es das Beste, sich die ganze Zeit zum Dienst zu melden, dachte sie. Wenn man damit einem Kollegen helfen konnte, gab es doch keinen Grund, es nicht zu tun.
Dann dachte sie eine Weile über diesen Albert nach.
Ein Franzose, der sich vor fünfzig Jahren oder mehr das Leben genommen hatte. Wegen Else Van Eck. War das eine Spur?
Und konnte das auch nur das Geringste mit diesem Fall zu tun haben, von dem Kommissar Münster einfach nicht lassen wollte?
Nein, nicht die Bohne, entschied sie. Etwas weiter Hergeholtes konnte man sich wohl kaum denken. Trotzdem beschloss sie, die Sache zu berichten. Die Geschichte zu erzählen. Das Gerücht. Und wenn auch nur, damit sie eine Weile bei Münster
sitzen und mit ihm reden konnte ... das kleine Vergnügen durfte sie sich doch wohl noch gönnen?
Übrigens schien das keine dumme Altersbeschäftigung zu sein, die Krystyna Gravenstein sich da besorgt hatte. Hoch über der Stadt zwischen Unmengen von Büchern zu sitzen und nur zu lesen und zu schreiben, das war doch was. Aber bis man soweit kam, musste man erst einmal ein ganzes Leben bewältigen.
Sie seufzte und ging zurück zum Polizeipräsidium.
Münster schaute auf die Uhr. Dann zählte er die Weihnachtsgeschenke auf dem Rücksitz.
Zwölf Stück in eineinhalb Stunden. Nicht schlecht. Dadurch hatte er genügend Zeit für einen Besuch in Pampas, was nicht unwichtig war, denn ihm war bereits klar geworden, dass die Witwe de Grooit es nicht mochte, Sachen und Geschehnisse schnell durchzuhecheln. Ruhe und Frieden, und jedes Ding zu seiner Zeit, ungefähr so hatte sie am Telefon geklungen.
Er parkte auf der Straße vor dem flachen, braunen Klinkerhaus. Blieb eine Minute im Auto sitzen, um sich zu sammeln und zu überlegen, was genau es ihm eigentlich unmöglich machte, diese Geschichte loszulassen.
Polizeichef Hiller hatte ihm in seiner großen Weisheit erklärt, dass es verdammt noch mal und zugenäht keine rationalen Gründe dafür gab, noch mehr Ressourcen auf den Fall zu vergeuden. Waldemar Leverkuhn war ermordet worden. Seine Ehefrau hatte gestanden, dass sie es gewesen war, und am Donnerstag sollte sie entweder für Mord oder für Totschlag verurteilt werden. War doch scheißegal, wofür nun. Ein gewisser Felix Bonger war verschwunden und eine gewisse Else Van Eck war
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