Muensters Fall - Roman
schon ausgezogen, da war es wohl einfacher mit einer Wohnung, sie waren nie so interessiert am Garten. Sie haben nicht mal ihre Adresse hinterlassen ... und später haben wir dann gehört, dass es Irene nicht so gut ging.«
»Ach ja?«, sagte Münster mit gespielter Verwunderung.
»Die Nerven«, konstatierte Frau de Grooit. »Sie hat es wohl nicht so recht geschafft, so war es nun mal. Manche schaffen es eben nicht, so ist es schon immer gewesen. Ist in ein Heim gekommen, ich weiß nicht, ob sie je wieder rausgekommen ist. Die waren so in sich gekehrt, die Schwestern auch, man hat sie auch nie mal mit Jungs gesehen. Haben sich ganz für sich gehalten, nein, das war wirklich keine glückliche Familie, wenn ich das so sagen darf. Aber man weiß so wenig.«
Sie verstummte, seufzte und rührte in ihrem Kaffee. Münster überlegte, was er sich eigentlich von diesem Gespräch erhofft hatte, und ihm war klar, dass er es einfach auf gut Glück versucht hatte. Wieder einmal.
Vielleicht würde ja etwas auftauchen, vielleicht auch nicht.
Kein schlechtes Motto für die Arbeitsweise der Kriminalpolizei an sich, dachte er. Eine vergebliche, willkürliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen, sah es nicht genauso aus?
Oder wie Reinhart sich auszudrücken pflegte: Ein Bulle, das ist eine blinde Schildkröte, die in der Wüste nach einem Schneeball sucht.
Es gab reichlich Bilder, die man anwenden konnte.
»Mir fällt da eine Geschichte ein«, sagte Frau de Grooit nach einigen Minuten der Stille. »Dieser Mauritz, der hatte es nicht leicht in der Schule, wie schon gesagt ... er ist ja mit unserem Bertrand in die gleiche Klasse gegangen, und einmal, da ist er von ein paar älteren Jungs verprügelt worden. Ich weiß nicht,
wie ernst das war, und auch nicht, was dahinter steckte, aber jedenfalls traute er sich nicht, danach wieder in die Schule zu gehen ... und er traute sich wegen seiner Eltern auch nicht, zu Hause zu bleiben. Frau Leverkuhn hatte keine Arbeit, als das passierte ... also tat er morgens so, als würde er losgehen, aber statt in der Schule zu sitzen, versteckte er sich den ganzen Tag über in dem Geräteschuppen hinter ihrem Haus. Er war damals wohl nicht älter als zehn, elf Jahre, die Schwestern wussten davon und beschützten ihn ... eine von ihnen hatte auch keinen Job, sie war tagsüber zu Hause und hat sich dann immer mit Broten zu ihm geschlichen. Er saß da den ganzen Tag, das ging mindestens zwei Wochen so ...«
»Haben sie denn nichts von der Schule gehört?«, wunderte Münster sich.
Sie zuckte mit den Schultern. Bürstete irgendwelche imaginären Kuchenkrümel von der Decke.
»Doch, nach einer Weile schon. Ich glaube, hinterher ist er von seinem Papa durchgeprügelt worden. Weil er so feige gewesen ist.«
»Nicht gerade eine gute Methode, um mutiger zu werden«, bemerkte Münster.
»Nein«, sagte Frau de Grooit. »Aber so war er, der Waldemar.«
»Wie?«, fragte Münster nach.
»Irgendwie hart ...«
»Sie mochten ihn nicht?«
Frau de Grooit sah etwas peinlich berührt aus.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Es ist schon so lange her. Wir hatten nicht viel miteinander zu tun, und man soll die Leute ja in Ruhe lassen, wenn sie es denn so wollen. Es gibt da so viele verschiedene Sorten ... jeder soll ja nach seiner Façon selig werden.«
»Damit haben Sie absolut Recht«, bestätigte Münster.
Er machte einen Spaziergang zwischen den niedrigen Häusern in Pampas, nachdem er Frau de Grooit verlassen hatte. Die
Kekse klebten ihm noch im Hals, und das Wetter war zumindest erträglich.
Ein ganz spezieller Teil der Stadt, dieses Pampas, das konnte er nicht leugnen. Und es war schon lange her, dass er hier gewesen war. Das tief liegende, fast sumpfige Gebiet am Fluss war nie besiedelt gewesen, bis es dann im Jahr nach dem Krieg auf einen Schlag bebaut wurde, und zwar mit diesen Reihen kleinner Häuser, mit nur drei oder vier Zimmern und sich eng aneinanderschmiegenden Grundstücken. Ein kommunales Eigenheimprojekt für strebsame Arbeiter und untere Beamte, wenn er es recht in Erinnerung hatte. Eine Art wohlgemeinter Klassenausgleichsversuch, und alles zusammen – insgesamt mehr als sechshundert Häuser – stand nach jetzt fast fünfzig Jahren immer noch in mehr oder weniger unverändertem Zustand da. Hier und da natürlich geflickt, renoviert und angebaut, aber dennoch sonderbar intakt.
Der Nachkriegsoptimismus, dachte Münster. Das Monument einer Epoche.
Und einer Generation, die
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