Mueslimaedchen - mein Trauma vom gesunden Leben
Biounterricht schauten wir manchmal Es war einmal … das Leben , und seitdem stellte ich mir vor, dass kleine Zeichentrickfiguren in mir hausten und meinen Körper in Ordnung hielten. Ich mochte den Gedanken, dass sie in Raumschiffen herumflogen, gegen Eindringlinge kämpften und dabei auch noch Spaß hatten.
In der Folge über das Abwehrsystem des Körpers lernen die weißen Blutkörperchen in der Thymusschule ihre Feinde kennen: Bakterien, Viren, Schmutzteilchen, schädliche Stoffe und Gifte. Commander Pierre erklärt seinen Schülern, wie sie zusammen mit den Antikörpern und Fresszellen die Feinde vernichten müssen. Wenn ich meine Mutter richtig verstanden hatte, verlieh Homöopathie den weißen Blutkörperchen Superkräfte. Doch was passierte mit ihnen, wenn ich ein Wundermittel wie Grippostad einnahm? Vielleicht würden die Blutkörperchen fristlos entlassen, weil sie auf einmal überflüssig waren! Und man weiß ja, was nach Kündigungen passiert. Die Gewerkschaften gehen auf die Barrikaden, und irgendjemand muss zahlen. In diesem Fall wäre das dann wohl ich. Nein, dieses Risiko wollte ich nicht eingehen. Tschüss Grippostad, schön war’s.
10 Eine Otto-Familie wird vorgestellt.
Das Müslimädchen will Buffalos, bekommt
aber keine und lässt sich ein
Max-Mustermann-Piercing stechen.
Dreimal im Jahr hatte der Postbote in unserer Stadt mächtig zu tun. An Weihnachten natürlich, da musste er unzählige Pakete ausliefern, die liebevolle Omas, Opas, Tanten, Onkel und Pateneltern gepackt hatten, und in denen sich im besten Fall Puppenkleider befanden, im schlimmsten Fall (für den Postboten) eine Modelleisenbahn. Die anderen beiden Male waren, wenn der neue Otto-Katalog erschien. Einmal im Frühjahr und einmal im Herbst.
Ach, der Otto-Katalog! Er hatte die Ausmaße eines Telefonbuchs und ein riesiges Sortiment an Kleidung, Schuhen, Unterwäsche, Bademode, Sportartikeln, Haushaltswaren, Spielzeug, Elektrogeräten und sogar Möbeln. So ähnlich wie Karstadt, nur eben für zu Hause – ein papiernes Konsumparadies mit Suchtpotenzial. Und er brachte die ganze Familie zusammen. Oma, Opa, Vater, Mutter, Kind: Otto fanden alle gut.
Nur meine Eltern nicht. Sie weigerten sich, einem Unternehmen Geld in den Rachen zu werfen, das Arbeiter ausbeutet (Mittelamerika! China! Indonesien!), von denen manche sogar Kinder sind (Indien!), außerdem stünde die schlechte Qualität der Kleider in keinem Verhältnis zu den überteuerten Preisen. Und chemikalienverseucht sei das ganze Sortiment sowieso. Bla bla bla.
»Wir sind halt keine Otto-Normalverbraucher«, sagte meine Mutter jedes Mal am Ende ihres Vortrags. Aus unerfindlichen Gründen war sie darauf auch noch stolz.
Nora hingegen war glückliches Mitglied einer Otto-Familie. Wenn der Katalog da war, klingelte bei uns das Telefon und ich kurze Zeit später an ihrer Haustür Sturm. Wir verbaten uns jede Störung, setzten uns mit einer Tüte Chips aufs Sofa und blätterten stundenlang durch die nach billiger Druckerschwärze riechenden Seiten. Immer wenn uns etwas besonders gut gefiel, klebten wir Post-its auf die Seiten (gelb für Nora, rosa für mich) und stellten uns vor, dass all diese wunderbaren Kleider einmal uns gehören würden, spätestens, wenn wir erwachsen wären und Unmengen an Geld verdienten. Also ungefähr tausend Mark im Monat.
Fast genauso spannend wie die vielen Kleider waren die Seiten ganz hinten, zwischen Elektrogeräten und Haushaltswaren: die Rubrik »Erotik«. Dagegen war die Bravo ein Witz. Was es dort alles gab! Bilder von Frauen, die statt einer Unterhose eine Perlenkette trugen. Love-Rings. Spanische Liebestropfen. Nippel-Hütchen mit Fransenquasten. Dildos. Gleitmitt … Nippel-Hütchen mit Fransenquasten? Was zum Teufel?! Wir ahnten, dass wir auf diesem Gebiet noch viel lernen mussten, und wir ahnten auch, dass es besser war, sich nicht dabei erwischen zu lassen.
Nachdem wir noch Langweiligkeiten wie Bügeleisen und Wäschetrockner überflogen hatten – man konnte ja nie wissen, was einem sonst entging –, gab Nora ihre Bestellung auf. Natürlich telefonisch, wir hatten schließlich keine Zeit, auf schöne Dinge zu warten. Zack, anrufen, zack, Nummern aufsagen, zack, auf Wiedersehen. Wenn man Glück hatte, kam das Paket schon nach drei Tagen, wenn man Pech hatte erst nach einer Woche.
Aber irgendwann war es da. Und das Wohnzimmer wurde zum Catwalk. Wir verhängten die Fenster mit Tüchern, schraubten eine rote Glühbirne in die
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