Mueslimaedchen - mein Trauma vom gesunden Leben
er.
»Was, so weit weg? Muss das denn sein?«, rief meine Mutter.
Ja. Ja und ja.
Um als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft in einer neuen Stadt zu bestehen, hilft es, wenn man eine Wohnung hat. Es kann auch gerne eine sein, in der mehrere Menschen leben, solange es sich nicht um betreutes Wohnen handelt.
Also eine WG .
Da sparst du Geld, sagte mein Vater.
Und bist nicht so allein, sagte meine Mutter.
Da lerne ich Leute kennen, sagte ich.
Was ich nicht sagte: Alleine wohnen kam sowieso nicht in Frage. Wegen der Einbrecher. Die zweifellos irgendwann kommen, und dann kann man froh sein, wenn man gerade nicht zu Hause ist und sie nur die Unterhosen mitnehmen und den Computer, andernfalls würde man ans Bett gefesselt, auf grausamste Art und Weise gefoltert und danach …
Keine Ahnung, wie ich auf solche Gedanken kam. Wir hatten ja nicht mal einen Fernseher. Nur unser großes, dunkles Haus mit den vielen Fenstern und Türen und Eingängen und den gruseligen Geräuschen. Tapp tapp tapp machte es, wenn meine Eltern unterwegs waren und mich alleine zurückließen. Tapp tapp tapp, wenn ich im Bett lag und vor Angst schwitzte, immer die Tür im Blick. Tapp tapp tapp, als ich mir die flache Hand gegen die Stirn schlug, weil herauskam, dass die Geräusche von einem purzelbaumschlagenden Marder auf dem Dachboden stammten. Aber zu spät. Die Angst vor Einbrechern hatte es sich schon gemütlich gemacht.
Ich klickte mich also durch die WG -Anzeigen im Internet, arglos, bescheiden und ohne besondere Ansprüche. Doch das sollte sich schnell ändern. In einer Anzeige las ich: »Da wir alle vegan leben, suchen wir eine Person, die in der Wohnung kein Fleisch/Fisch etc. essen würde. Über Milchprodukte könnten wir verhandeln«.
Oh Gott, bloß keine Öko- WG ! Nach neunzehn Jahren wollte ich auch mal was anderes, ehrlich.
Ich klickte weiter.
»Nur Zweck- WG ! Jeder von uns macht sein eigenes Ding, und das soll auch so bleiben«, stand in einer anderen Anzeige. Das fand ich nun auch eher freudlos. Was, wenn man sich aus Versehen gut verstand? Da lief man doch Gefahr, dass irgendwann einer am Tisch weinend ausruft: »Ja, ich kann es nicht mehr leugnen – ich habe freundschaftliche Gefühle für dich!«, und die anderen schütteln ihre Köpfe und sagen: »Sorry, Mann, aber das geht echt nicht. WG -interne Befreundungen wollen wir hier nicht haben. Pack bitte zum nächstmöglichen Zeitpunkt deine Sachen, ja?«
Viel zu unsicher und emotional aufreibend.
Dann gab es noch die Anzeige, in der stand: »Dein Zimmer ist nur sechs Quadratmeter groß, aber dafür sehr günstig. Es hat Tageslicht, allerdings durch ein Fenster, das sich nicht öffnen lässt.« Entschuldigung, ich wollte in Berlin leben, nicht sterben.
Viel blieb nach dieser natürlichen Auslese nicht übrig. Nur normale, nette Menschen, die normale, nette Menschen für eine normale, nette Wohnung suchten. Und als ich in der hellen Altbauwohnung stand, in der Holger und Ben eine Sechser- WG gründen wollten, und Holger ein bisschen rumdruckste und sagte: »Also, außer der Frauenquote ist uns eigentlich alles ziemlich egal«, da wusste ich: Hier bin ich Mensch, hier kann ich sein, hier stellt niemand irgendwelche Ansprüche an mich. Dass Ben im Hintergrund grinste und irgendwas sagte wie: »Bei drei Jungs und drei Mädchen ist ja für jeden was dabei, höhö«, ignorierte ich erst mal.
Zwei Wochen später fuhr ich in einem gemieteten Golf-Kombi Richtung Nordosten. Hinten im Auto befand sich außer meinen Kleidern und ein paar Möbeln eine komplette Küchenausstattung inklusive Geschirrtücher. Also all das, was ich in den letzten Jahren von meinen Eltern zum Geburtstag und zu Weihnachten bekommen hatte. Die Aussteuer, wie meine Mutter es nannte. Ach, wie ich mich auf meinen Bräutigam freute. Berlin, ich komme! Endlich würde ich alles tun und lassen können, was ich wollte.
Bei einem Nachmittagsbier saßen wir uns das erste Mal auf dem Dielenboden in der neuen Wohnung gegenüber, die so groß war wie die Hoffnung, die ich in die neue Stadt setzte. Wir, das waren neben Holger und Ben noch Ada, Marilli, Hansen und ich. Sechs Studenten um die Zwanzig, manche schon im dritten Semester und mit WG -Erfahrung, andere gerade am Anfang, so wie ich.
»Also, wie stellt ihr euch das alles vor?«, sagte Ada und zündete sich eine Zigarette an. »Gibt es irgendwelche Regeln?«
»Ach so, ja, ich weiß gar nicht, ob ich das gesagt habe«, sagte Ben. »Da die meisten von uns
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