Mummenschanz
um. Sie hatte erst seit recht kurzer Zeit Gelegenheit, Erfahrungen mit Opern zu sammeln, doch Hexen lernen schnell: Dort war der Flügelhelm, den Hildabrun in Der Ring der Nibelungingung getragen hatte, und dort war der gestreifte Pfahl aus Der Barbier von Pseudopolis, und dort war das falsche Pferd mit der lustigen Falltür aus Die verzauberte Pikkoloflöte. Und dort…
… dort gab es die Oper im wahrsten Sinne des Wortes haufenweise. Wenn man einen ersten Eindruck gewonnen hatte, bemerkte man danach rissige Farbe und abbröckelnden Putz und Schimmel. Man hatte die alten Requisiten und abgewetzten Kostüme an diesem Ort untergebracht, weil sie niemand mehr haben wollte.
Doch hier unten lag jemandem etwas an ihnen. Beim zweiten oder dritten Blick sah der aufmerksame Beobachter reparierte Stellen und neue Anstriche.
In dem kleinen noch freien Bereich stand ein Schreibtisch. Nanny stellte fest, daß er eine Tastatur hatte, vor der mehrere Stapel Papier lagen.
Walter lächelte stolz.
Nanny näherte sich dem tischartigen Etwas. »Das ist ein Harmonium? Eine kleine Orgel?«
»Ja das stimmt Frau Ogg!«
Nanny griff nach den Blättern. Ihre Lippen bewegten sich, als sie die fein säuberliche Handschrift las.
»Eine Oper über Katzen ?« fragte sie. »Habe noch nie von einer Oper über Katzen gehört…«
Sie überlegte kurz und dachte dann: Aber warum nicht? Eigentlich ist es eine ausgezeichnete Idee. Das Leben von Katzen gleicht einer Oper, wenn man genauer darüber nachdenkt.
Sie griff nach den anderen Papierbündeln und blätterte. »Burschen und Trolle? Geschichte der mittwärtigen Seite? Miserabel Les? Wer ist damit gemeint? Sieben Zwerge für sieben andere Zwerge? Was bedeutet das, Walter?«
Nanny setzte sich, drückte einige der vergilbten Tasten und hörte, daß sie leise quietschten. Unter dem Harmonium entdeckte sie zwei große Pedale. Sie trat einen Blasebalg, mit dessen Hilfe die alten Tasten Töne erzeugen konnten – Geräusche, die den Klängen einer echten Orgel ebenso nah kamen wie »verflixt« dem herzhaften Fluchen.
Hier sitzt Wal… der Geist also, dachte Nanny. Unter der Bühne, inmitten der Überreste längst vergessener Aufführungen. Unter dem großen, fensterlosen Raum, in dem Abend für Abend Musik erklang, die Gefühle stimulierte und von den Wänden widerhallte, ohne jemals ganz zu verstummen. Hier unten arbeitete der Geist, mit einem Bewußtsein so offen wie ein Brunnen, mit einem Selbst, das sich nach Oper sehnte. Die Oper kam durch seine Ohren herein, und das Ich des Geistes schuf daraus etwas anderes.
Nanny trat einige Male versuchsweise auf die Pedale. Luft zischte aus kleinen Rissen und undichten Säumen. Sie spielte einige Noten und hörte schrille Töne. Wie dem auch sei, dachte die Hexe. Manchmal stimmt die alte Lüge. Manchmal kommt es nicht auf die Größe an, sondern darauf, was man damit macht.
Walter beobachtete sie erwartungsvoll.
Nanny nahm ein weiteres Papierbündel und sah auf die erste Seite. Doch Walter beugte sich vor und nahm ihr das Manuskript aus der Hand.
»Das ist noch nicht fertig Frau Ogg!«
Noch immer herrschte Aufregung im Opernhaus. Die eine Hälfte des Publikums war nach draußen gegangen; die andere verharrte im Saal und wartete darauf, daß sich weitere interessante Ereignisse zutrugen. Das Orchester beriet sich in der Grube und bereitete eine Petition vor, die eine Störungen-durch-den-Geist-Zulage verlangte. Der Vorhang war geschlossen. Einige Chorsänger standen noch auf der Bühne; ihre Kollegen nahmen an der Verfolgungsjagd teil. In der prickelnden Luft spürte man jene Art von Elektrizität, die entsteht, wenn es im zivilisierten Leben zu vorübergehenden Kurzschlüssen kommt.
Agnes eilte von Gerücht zu Gerücht. Man hatte den Geist gefangen und als Walter Plinge identifiziert. Walter Plinge hatte den Geist geschnappt. Jemand anders hatte ihn überwältigt. Der Geist war entkommen. Der Geist war tot.
Überall wurde erregt diskutiert.
»Ich kann einfach nicht glauben, daß Walter dahintersteckt! Ich meine, lieber Himmel… ausgerechnet Walter ?«
»Was ist mit der Show? Sie muß weitergehen. Wir hören nie mit der Show auf, nicht einmal, wenn jemand stirbt!«
»Oh, wir haben die Show einmal unterbrochen, als jemand starb…«
»Ja, aber nur lange genug, um die Leiche von der Bühne zu tragen.«
Agnes wich in die Kulissen zurück und trat auf etwas. »Entschuldigung«, sagte sie automatisch.
»Es war nur mein Fuß«, erwiderte
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