Mummenschanz
nicht sicher. Ihre eigenen Schatten tanzten um sie herum, und sie passierten noch dunklere und feuchtere Räume als die hinter ihnen liegenden. Vor einem Stapel aus halb vermodertem Holz blieb Walter stehen und zog einige verfaulte Planken beiseite.
Darunter kamen Säcke zum Vorschein.
Nanny trat nach einem, und das Ding riß auf.
Im flackernden Kerzenschein rutschten schimmernde Objekte aus dem Sack heraus, begleitet von einem charakteristischen Geräusch: Münzen, die über Münzen kratzten. Geld. Jede Menge Geld. Genug Geld, um zu vermuten, daß es entweder einem Dieb oder einem Verleger gehörte, und von Büchern war weit und breit nichts zu sehen.
»Was ist das, Walter?«
»Das Geld des Geistes Frau Ogg!«
In der gegenüberliegenden Wand des Raums war eine quadratische Öffnung. Wasser glänzte einige Zentimeter darunter. Neben dem Loch standen mehrere Behälter unterschiedlicher Art: alte Keksdosen, zerbrochene Schalen und ähnliches. In jedem Behälter steckte ein Stock beziehungsweise der traurige Rest eines Strauchs.
»Und das, Walter? Was ist das?«
»Rosenbüsche Frau Ogg!«
»Hier unten? Aber an einem solchen Ort kann nichts wa…«
Nanny unterbrach sich.
Sie platschte zu den Töpfen. Jemand hatte sie mit Schlamm gefüllt; Schleim glänzte an den toten Stielen.
Nein, hier unten konnte nichts wachsen. Es gab kein Licht. Wenn etwas wachsen wollte, brauchte es etwas anderes, das Energie lieferte. Und…
Nanny hielt die Kerze etwas näher und schnupperte. Ja. Der charakteristische Duft war zwar schwach, aber eindeutig vorhanden. Rosen in der Dunkelheit.
»Na so was, Walter Plinge«, sagte sie. »Du bist immer für eine Überraschung gut.«
Bücher stapelten sich auf Herrn Eimers Schreibtisch.
»Was du da machst, ist falsch, Oma Wetterwachs«, sagte Agnes von der Tür her.
Oma sah auf. »Ist es ebenso falsch, wie das Leben anderer Leute für sie zu leben?« erwiderte sie. »Oder, noch schlimmer, das Leben anderer Leute selbst zu leben. Ist es so falsch?«
Agnes schwieg. Oma Wetterwachs konnte nicht Bescheid wissen.
Oma wandte sich wieder den Büchern zu. »Nun, dies sieht nur falsch aus. Und der Schein trügt häufig. Behalte du den Flur im Auge, junge Dame.«
Erneut nahm sie sich Teile des Chaos aus zerknitterten Briefumschlägen und zerfransten Zetteln vor, aus dem hier die Bücher bestanden. Es war ein einziges Durcheinander, sogar noch mehr. Es war mehr als ein »normales« Durcheinander, in dem zumindest eine zufällige Ordnung existierte. In diesem Fall war das Chaos völlig chaotischer Natur, was die Vermutung nahelegte, daß Absicht dahintersteckte.
Zum Beispiel die Kontobücher. Sie enthielten viele kleine Reihen und Spalten, aber jemand hatte es nicht für nötig gehalten, in Linienpapier zu investieren. Hinzu kam eine Handschrift, die ständig dazu neigte, hin und her zu wandern. Auf der linken Seite waren vierzig Reihen, auf der rechten reduzierte sich ihre Anzahl auf sechsunddreißig. Der Grund dafür ließ sich nur schwer feststellen, da einem die Augen tränten.
»Was hast du gefunden?« fragte Agnes und wandte den Blick vom Flur ab.
»Es ist erstaunlich«, sagte Oma. »Manche Dinge sind zweimal eingetragen! Und bestimmt gibt es hier eine Seite, auf der jemand den Monat addiert und die Uhrzeit subtrahiert hat!«
»Ich dachte, du magst keine Bücher dieser Art«, meinte Agnes.
»Da hast du ganz recht«, bestätigte Oma. »Solche Bücher können einem direkt ins Auge sehen und trotzdem lügen. Wie viele Geigenspieler sind in der Kapelle?«
»Ich glaube, dem Orchester gehören neun Violinisten an.«
Oma nahm die Berichtigung nicht zur Kenntnis.
»Interessant«, sagte Oma. »Anscheinend werden insgesamt zwölf bezahlt, aber drei stehen auf der anderen Seite.« Sie rieb sich zufrieden die Hände. »Sie fallen nur auf, wenn man ein gutes Gedächtnis hat.«
Ihr dürrer Finger folgte einer weiteren zittrigen Kolonne. »Was ist eine fliegende Ratsche?«
»Keine Ahnung.«
»Hier steht: Reparatur der fliegenden Ratsche, neue Federn für rotierendes Getriebe, Wartung. Hundertsechzig Dollar und dreiundsechzig Cent. Ha!«
Sie befeuchtete ihren Finger und blätterte.
»Selbst Nanny geht nicht so schlecht mit Zahlen um«, sagte Oma. »Um so schludrig mit Zahlen umzugehen, muß man sie gut kennen. Kein Wunder, daß hier nie Geld verdient wird. Genausogut könnte man versuchen, ein Sieb zu füllen.«
Agnes eilte herein. »Es kommt jemand!«
Oma stand auf und blies die
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