Mummenschanz
Beispiel könnten wir dich von den kleinen Beschwerden befreien, die du vielleicht hast.«
Der Kutscher runzelte die Stirn. »Ich befördere euch nicht kostenlos, ihr alten Schachteln. Und ich habe keine kleinen Beschwerden.«
Oma trat vor.
»Möchtest du vielleicht einige große bekommen?« fragte sie.
Regen fiel auf die weite Ebene. Es war kein beeindruckender Gewitterregen wie in den Spitzhornbergen, eher ein beharrliches Nieseln, so träge wie ein dicker Hund. Die dunklen, tief hängenden Wolken folgten der Kutsche schon den ganzen Tag.
Die Hexen hatten das Passagierabteil ganz für sich allein. Einige Leute hatten die Tür geöffnet, als die Kutsche noch wartete. Doch beim Anblick der beiden Insassen änderten sie plötzlich ihre Reisepläne.
»Wir kommen gut voran«, sagte Nanny. Sie zog den Vorhang beiseite und sah nach draußen.
»Der Kutscher hat’s vermutlich eilig.«
»Ja, das nehme ich an.«
»Schließ das Fenster. Es wird naß hier drin.«
»In Ordnung.«
Nanny griff nach der Schnur – und steckte den Kopf noch einmal hinaus in den Regen.
»Anhalten! Anhalten! Wir müssen sofort anhalten!«
Die Kutsche kam in spritzendem Schlamm zum Stehen.
Nanny öffnete die Tür. »Na so was! Ganz allein nach Hause zu laufen, und das bei diesem Wetter! Du holst dir noch den Tod!«
Regen und Nebel wallten herein. Ein zotteliges, durchnäßtes Etwas sprang über die Türleiste und kroch unter die Sitzbank.
»Er will unabhängig sein«, sagte Nanny. »Ach, ist er nicht lieb?«
Die Kutsche setzte sich wieder in Bewegung. Oma blickte über endlose dunkle Felder ins unaufhörliche Nieseln. Nach einer Weile bemerkte sie eine andere Gestalt, die im Schlamm neben der Straße stapfte… neben einer Straße, die irgendwann Lancre erreichte. Die Kutschenräder bespritzten den Wanderer mit Matsch.
»Ja«, sagte Oma und zog die Vorhänge zu. »Das Streben nach Unabhängigkeit ist wirklich sehr lobenswert.«
Die Bäume waren kahl, als Oma Wetterwachs zu ihrer Hütte zurückkehrte.
Der Wind hatte Samenkörner und kleine dünne Zweige unter der Tür hindurchgeweht. Es galt, Blätter fortzufegen und Holzscheite unterm Dachvorsprung zu stapeln. Der von den Herbststürmen zerrissene Windsack hinter den Bienenstöcken wartete darauf, geflickt zu werden. Die Ziegen brauchten Heu. Außerdem durfte Oma nicht zu lange damit warten, die Äpfel auf dem Dachboden zu verstauen. Und die Wände konnten eine neue Schicht aus weißer Tünche vertragen.
Doch bevor sie sich um diese Dinge kümmerte, mußte sie etwas anderes hinter sich bringen. Die übrigen Aufgaben wurden dadurch schwieriger, aber daran ließ sich nichts ändern. Bei Eisen versagte Magie. Und man konnte keine Schwertklinge mit der bloßen Hand festhalten, ohne sich zu verletzen. Wenn das nicht mehr stimmte, geriet die ganze Welt außer Rand und Band.
Oma kochte sich Tee und setzte anschließend erneut Wasser auf. Einer Schachtel auf der Anrichte entnahm sie eine Handvoll Kräuter und gab sie in eine Schüssel mit dampfendem Wasser. Sie öffnete eine Schublade, holte eine Verbandsrolle daraus hervor und legte sie neben die Schüssel. Sie fädelte eine besonders spitze Nadel ein und legte Nadel und Faden dann neben die Verbandsrolle. Sie schöpfte etwas grüne Salbe aus einer Dose und schmierte sie auf ein Stück Mull.
Damit schienen alle Vorbereitungen getroffen zu sein.
Oma setzte sich und legte den einen Arm so auf den Tisch, daß die Handfläche nach oben zeigte.
»Nun«, teilte sie dem Universum mit, »ich glaube, jetzt habe ich Zeit.«
Der Abort mußte erneuert werden, was Oma gern selbst erledigte. Es konnte sehr angenehm sein, ein tiefes Loch zu graben. Es war unkompliziert. Bei einem Loch im Boden wußte man genau, woran man war. Erde kam nicht auf komische Gedanken und glaubte nicht an die Ehrlichkeit von Leuten, nur weil sie einen ruhigen Blick oder einen festen Händedruck hatten. Sie lag einfach nur da und wartete darauf, bewegt zu werden. Und nachher konnte man das angenehme Wissen genießen, daß man diese Arbeit erst in einigen Monaten wiederholen mußte.
Als Oma unten im Loch grub, fiel ein Schatten auf sie.
»Guten Tag, Perdita«, sagte sie, ohne aufzusehen.
Sie hob den Spaten in einem Bogen auf Kopfhöhe, und Lehmbrocken sausten über den Rand des Loches hinweg.
»Bist auf Besuch hier, nicht wahr?« fügte Oma hinzu.
Sie rammte den Spaten in den Boden, schnitt eine Grimasse und drückte ihn mit dem Fuß tiefer ins
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