Mummenschanz
Gesellschaft der Elefanten als angenehm empfand – es gab also doch Geschöpfe, die mehr Masse hatten als sie.
Hinter der Bühne lagen so große Zimmer, daß ganze Szenenaufbauten in ihnen untergebracht wurden. Das Gebäude enthielt irgendwo eine ganze Ballettschule. Einige Schülerinnen sprangen gerade in häßlichen Trägerkleidern aus Wolle auf der Bühne umher.
Das Innere des Opernhauses – besonders die Regionen »hinter den Kulissen« – erinnerte Agnes an die Uhr, die ihr Bruder einmal auseinandergenommen hatte, um das Ticken zu suchen. Von einem Gebäude in dem Sinne konnte hier eigentlich keine Rede sein. Es ähnelte eher einer… Maschine. Bühnendekorationen, Vorhänge, Seile und andere Dinge standen und hingen in der Dunkelheit wie schreckliche Geräte in einem finsteren Keller. Die Bühne bildete nur einen kleinen Teil eines viel größeren Ganzen: ein winziges Rechteck aus Licht in der gewaltigen, dunklen Maschinerie…
Putz rieselte aus der hohen Schwärze herab. Agnes wischte ihn fort.
»Ich glaube, ich habe dort oben jemanden gehört«, sagte sie.
»Wahrscheinlich ist es der Geist!« erwiderte Christine. »Wir haben hier einen, weißt du! Oh, ich habe wir gesagt!! Ist das nicht aufregend?!«
»Ein Mann, der sein Gesicht hinter einer weißen Maske verbirgt«, sagte Agnes.
»Oh?! Hast du von ihm gehört?!«
»Was? Von wem?«
»Von dem Geist!!«
Verflixt, dachte Agnes. Es lag auf der Lauer, immer dazu bereit, ihr einen Streich zu spielen. Manchmal wußte sie einfach über Dinge Bescheid. Das beunruhigte die Leute. Und es beunruhigte auch sie selbst.
»Oh, ich… jemand hat mir davon erzählt«, sagte sie.
»Er schleicht unsichtbar durch die Oper, heißt es!! Im einen Augenblick ist er in der Galerie, im nächsten irgendwo hinter der Bühne!! Niemand weiß, wie er das fertigbringt!!«
»Ach?«
»Angeblich ist er bei jeder Vorstellung zugegen!! Deshalb werden nie Karten für Loge acht verkauft! Wußtest du das nicht?!«
»Loge acht?« wiederholte Agnes. »Was ist eine Loge?«
»Logen! Du weißt schon! Dort nehmen die besseren Leute Platz! Komm, ich zeig’s dir!!«
Christine trat zum vorderen Bereich der Bühne und deutete ausladend in den leeren Zuschauersaal.
»Die Logen!« verkündete sie. »Da drüben! Und dort oben – die Galerie, auch Olymp genannt!«
Ihre Stimme hallte von der fernen Wand wider.
»Gehören die besseren Leute nicht auf den Olymp? Es klingt so, als…«
»O nein! Die besseren Leute nehmen in den Logen Platz! Oder im Parkett!«
Agnes streckte die Hand aus.
»Wer sitzt da unten? Von dort aus hat man sicher einen guten Blick…«
»Sei nicht dumm!! Das ist der Orchestergraben!! Für die Musiker!!«
»Musiker und ein Graben? Nun, ergibt einen gewissen Sinn. Äh… wo liegt Loge acht?«
»Keine Ahnung! Es heißt, wenn jemals Karten für Loge acht verkauft werden, droht eine schreckliche Tragödie!! Ist das nicht romantisch?!«
Etwas zog Agnes’ Blick zu dem großen Kronleuchter, der wie ein phantastisches Seeungeheuer über dem Zuschauersaal hing. Sein dickes Seil verschwand in der Dunkelheit unter der Decke.
Glas klirrte leise.
Erneut machte sich jene Kraft bemerkbar, die Agnes immer zu unterdrücken versuchte. Ein vages Bild huschte an ihrem inneren Auge vorbei.
»Das sieht ganz nach einem bevorstehenden Unglück aus«, murmelte sie.
»Bestimmt ist alles völlig sicher!!« trillerte Christine. »Hier läßt man gewiß nicht zu…«
Ein disharmonischer Ton erklang, und die ganze Bühne vibrierte. Noch mehr Staub rieselte herab.
»Was war das?« fragte Agnes.
»Die Orgel!! Sie ist so groß, daß sie hinter der Bühne steht!! Komm, sehen wir nach!!«
Angestellte eilten zu dem großen Musikinstrument. Ein umgekippter Eimer lag daneben, und eine Lache grüner Farbe wuchs in die Breite.
Ein Tischler griff an Agnes vorbei nach einem Umschlag, der auf dem Sitz vor der Orgel lag.
»Für den Chef«, sagte er.
»Wenn ich Post bekomme, klopft der Briefträger meistens an«, sagte eine Ballerina und kicherte.
Agnes sah nach oben. Seile pendelten in der muffigen Finsternis träge hin und her. Sie glaubte, für einen Sekundenbruchteil etwas Weißes zu sehen, dann verlor sich das Etwas wieder in der Schwärze.
Eine schemenhafte Gestalt hing reglos unter der Decke, gehalten von mehreren Stricken.
Etwas Feuchtes und Klebriges tropfte von ihr herab und klatschte auf die Orgeltasten.
Einige Leute schrien bereits, als Agnes den Finger in die Pfütze tauchte und
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