Mummenschanz
Mund öffnete…
Walter hatte nicht antworten wollen. Aber er gab Antwort, wenn man ihn etwas fragte, und offenbar konnte er nicht lügen. Er hielt das Lügen für falsch, für etwas Schlimmes.
Agnes hatte noch nie die Ballettschule besucht. Sie lag nicht zu weit hinter der Bühne, bildete jedoch eine eigene Welt. Jeden Tag sprangen dürre und kichernde Tänzerinnen daraus hervor. Kontrolliert wurde die Schar von älteren Frauen, die zum Frühstück in Essig eingelegte Limonen zu essen schienen. Erst nach einigen schüchternen Erkundigungen bei den Bühnenmitarbeitern begriff Agnes, daß sich die Mädchen freiwillig für das Ballett entschieden hatten.
Sie kannte den Umkleideraum der Tänzerinnen: In einem Zimmer, das kaum größer war als Herr Eimers Büro, mußten sich dreißig junge Frauen waschen und umziehen. Es stand in der gleichen Beziehung zum Ballett wie Kompost zu Rosen.
Agnes sah sich erneut um. Man schenkte ihr noch immer keine Beachtung.
Sie ging in Richtung Schule, brachte eine kurze Treppe hinter sich und wanderte durch einen Flur, an dessen Wänden Anschlagtafeln hingen und in dem es nach alter Schmiere roch. Zwei Mädchen eilten an Agnes vorbei. Man sah nie eins allein. Sie kamen immer in Gruppen, wie Eintagsfliegen.
Kurze Zeit später öffnete Agnes eine Tür und betrat die Ballettschule.
Reflektierte Reflexionen…
Überall glänzten Spiegel.
Stangen zogen sich an den Wänden entlang, und einige junge Frauen hielten sich daran fest, während sie übten. Sie sahen auf, als Agnes hereinkam.
Spiegel…
Draußen im Flur versuchte sie, sich wieder zu fassen. Sie hatte Spiegel nie gemocht und sich immer von ihnen verhöhnt gefühlt. Hieß es nicht von Hexen, daß sie es verabscheuten, zwischen zwei Spiegel zu geraten? Es zerrte an ihrer Seele oder so. Nein, eine Hexe würde auf keinen Fall zwischen zwei Spiegel treten, wenn sie es vermeiden konnte…
Aber Agnes war natürlich keine Hexe, ganz bestimmt nicht. Sie holte tief Luft und kehrte in den Raum zurück.
Abbilder von ihr erstreckten sich in alle Richtungen.
Sie kam einige Schritte weit, bevor sie sich umdrehte und, von mehreren erstaunten Mädchen beobachtet, zur Tür zurücktaumelte.
Es lag sicher am Schlafmangel, sagte sie sich. Und an der allgemeinen Aufregung. Außerdem war es gar nicht nötig, dieses Zimmer zu betreten, denn inzwischen kannte sie die Identität des Geistes.
Es war alles so offensichtlich. Der Geist braucht keine geheimnisvollen Höhlen, um sich zu verstecken. Es genügte, sich dort zu verbergen, wo ihn alle sehen konnten.
Herr Eimer klopfte an die Tür von Salzellas Büro. »Herein«, erklang eine gedämpfte Stimme.
Niemand hielt sich im Büro auf, aber es gab noch eine zweite Tür in der gegenüberliegenden Wand. Eimer klopfte erneut und zerrte dann am Knauf.
»Einen Augenblick«, sagte Salzella.
»Bist du salonfähig?«
»Ich bin angezogen, wenn du das meinst. Steht ein Kübel mit Eis im Flur?«
»Hast du ihn bestellt?« fragte Eimer schuldbewußt.
»Ja!«
»Ich… äh… hab ihn mitgenommen, um meine Füße hineinzustellen…«
»Deine Füße ?«
»Ja. Äh… weißt du, ich bin ein wenig durch die Stadt gelaufen, tja, mir war einfach danach…«
»Und?«
»Bei der zweiten Runde fingen meine Stiefel Feuer.«
Etwas rauschte, und jemand brummte leise. Dann schwang die Tür auf, und Salzella trat ins Büro. Er trug einen purpurnen Morgenmantel.
»Ist Señor Basilica sicher angebunden?« fragte er. Eine kleine Lache entstand zu seinen Füßen.
»Er hat mit Herrn Trubelmacher geprobt.«
»Und er… fühlt sich gut?«
»Er hat sich einen kleinen Imbiß aus der Küche kommen lassen.«
Salzella schüttelte den Kopf. »Erstaunlich.«
»Den Dolmetscher hat man in einem Schrank untergebracht. Offenbar läßt sich der Bursche nicht mehr entfalten.«
Eimer setzte sich langsam und vorsichtig. Seine Füße steckten in Pantoffeln.
»Und…?« fragte Salzella.
»Und was?«
»Wohin ist die gräßliche Frau verschwunden?«
»Frau Ogg zeigt ihr hier alles. Was sollte ich machen? Zweitausend Dollar, erinnerst du dich?«
»Ich versuche zu vergessen«, sagte Salzella. »Ich verspreche dir, nie wieder über das Essen zu reden – wenn du ebenfalls darüber schweigst.«
»Welches Essen meinst du?« fragte Eimer unschuldig.
»Das ist die richtige Einstellung.«
»Sie kann sehr beeindruckend sein, nicht wahr…«
»Ich weiß überhaupt nicht, von wem du redest.«
»Ich meine, es dürfte klar sein, auf
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