Mundtot nodrm
verriet seine Herkunft. »Wenn es außerhalb der etablierten Parteien welche gäbe, die ein größeres Vertrauen genießen würden, nu, dann hätten womöglich die Radikalen von rechts und links außen längst einen großen Zulauf.«
Der Vorsitzende nickte. »Die Menschen im Lande suchen Halt und Vertrauen bei einer Gruppierung, die sozusagen unbefleckt ist. Bei Personen, denen sie einen neuen Anfang dieser Demokratie zutrauen.«
»Eine Revolution eben«, meinte der Bayer und grinste dem Vorsitzenden zu. Der wiederum griff den Gedanken auf und formulierte es vorsichtig: »Revolutionen sollte man im Keim ersticken, bevor sie in einen Umsturz ausarten.«
»Hört, hört«, merkte der Bayer an.
»Unsere Aufgabe muss es sein«, fuhr der Vorsitzende unbeirrt fort, als wolle er ein knappes Resümee ziehen, »den Massen klarzumachen, dass unser Wertesystem alternativlos ist. Ich betone: Alternativlos. Ein Wort, das sich inzwischen eingeprägt hat. Wir müssen die Botschaft rüberbringen, dass alles, was dieses System aus dem Gleichgewicht bringt, jedem Einzelnen schadet. Bleibachs Parolen würden nicht das Wohlergehen der Menschen verbessern, sondern den Lebensstandard auf einem sehr niedrigen Niveau einfrieren.«
Der junge Mann aus Niedersachsen, der als Einziger statt einer Krawatte ein T-Shirt unter dem Hemd trug, zeigte sich davon wenig erbaut: »Um ehrlich zu sein, ich hätt’ jetzt ein sehr ungutes Gefühl, in Lüneburg auf dem Marktplatz zu stehen und so etwas den Menschen zu sagen.«
Der Bayer winkte verärgert ab. »Mit g’studiertem G’schwätz natürlich nicht. Überzeugen musst du, überzeugen! Hinstell’n, wie a g’stand’nes Mannsbild und den Leut’n sag’n, es geht euch zwar beschissen, aber immer noch gut genug.«
Der junge Abgeordnete hielt jeden Widerspruch für zwecklos, beschloss aber, sich nicht dem Klüngelkreis der Abgeordneten unterzuordnen, dem schon viele Nachwuchspolitiker erlegen waren. Während seiner kurzen Amtszeit hatte er oft genug erlebt, welche Diskrepanz sich zwischen den schönen Reden in den Wahlkreisen und den einstimmig gefassten Beschlüssen in Berlin auftat.
»Alois hat recht«, gab sich Wettstein zurückhaltend und um Sachlichkeit bemüht, »wir alle haben mal lernen müssen, dass es Dinge gibt, die man im Interesse des Ganzen nicht an die große Glocke hängen sollte. In einer Gesellschaft treten so viele unterschiedliche Gruppen auf, die man niemals unter einen Hut bringen kann.«
Er blätterte in seinen Unterlagen und suchte nach den Notizen, die er sich gestern beim Gespräch mit den Vertretern der anderen Fraktionen gemacht hatte. »Wie ich bereits angedeutet habe, herrscht über die Parteigrenzen hinweg Einigkeit, dass Handlungsbedarf besteht. Jetzt in der Vorweihnachtszeit erscheint es auch den anderen sinnvoll zu sein, zunächst noch Ruhe zu bewahren.«
»Sie wollen den Weihnachtsfrieden nicht stören«, kommentierte der Bayer süffisant.
»Ich denke, dass intern die Weichen richtig gestellt sind«, gab Wettstein ebenso spitz zurück.
»Aber Bleibach gönnt sich ganz sicher keine Weihnachtspause«, stellte der junge Politiker aus Niedersachsen fest.
»Wenn man seinen Tourneeplan im Internet ansieht, nicht – da hast du recht«, räumte der Vorsitzende ein. »Außerdem geht er demnächst zu einigen Talkshows ins Fernsehen.«
Die Dame schaltete sich wieder ins Gespräch ein. »Immerhin behandeln die Journalisten das Thema Bleibach ziemlich kritisch.«
Wettstein nickte zufrieden. »Die Mainstream-Medien haben, Gott sei Dank, die Linie vorgegeben.« Er wusste aus Erfahrung, wie wichtig die rechtzeitigen Veröffentlichungen und Kommentare großer Medien waren, an denen sich dann all die anderen orientierten. Vergleichbar mit einem Kunstwerk, das niemand mehr als Schwachsinn abtun konnte, wenn es einmal im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung hochgelobt worden war. Dieser Mechanismus funktionierte längst auch bei der politischen Berichterstattung, ohne dass dazu staatliche Eingriffe oder gar eine Zensur notwendig wären. Überhaupt, so schien es Wettstein, gab es im Journalismus seit einigen Jahren eine Grundhaltung, die politischen Außenseitern – und mochten sie noch so ungefährlich sein – keine Chance ließ. Dasselbe galt auch bei Themen aus der Theologie oder Grenzbereichen der Wissenschaft. Sobald etwas von der großen Linie abwich, der alle folgten, wurde es mit Arroganz in seltener Einigkeit verächtlich gemacht. Und wer es wagte, sich trotzdem
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