Munzinger Pascha
tausendjähriger Geschichte. Ein wirklich gänzlich neuer, jungfräulicher Ort – das könnte nur ein Ort sein, an dem noch nie eine Menschenseele hauste. Aber ein Ort ohne Menschen wäre doch kein wirklicher Ort. Und doch . . .
Werner weiß, was auf ihn zukommt. Das Rote Meer ist voller Klippen und heimtückischer Sandbänke, der Grund bedeckt mit vermodernden Schiffen und den |62| Leichen unglücklicher Seeleute. Die Küste ist auf der afrikanischen wie der arabischen Seite wüst und wasserarm, bewohnt von Skorpionen, Schlangen und räuberischen Beduinenvölkern. Aber die Natur hat diesen Landstrich auch reich beschenkt, und Werner Munzingers Einkaufszettel ist lang: Gummi, Myrrhe, Weihrauch; Perlen, Perlmutt und Schildpatt; Durra, Reis, Datteln; Baumwolle, Kaffee, Pfeffer.
Ein Schwarm von sieben Delphinen überholt das Schiff. Bald wird es hell über dem Sinai. Und da versteht Werner Munzinger, woher das Rote Meer seinen Namen hat: Denn während das Wasser noch immer nachtschwarz unter den Schiffsbohlen gurgelt, entzünden sich die eisenhaltigen Sandsteinfelsen in brennendem Rot. Als die ersten Sonnenstrahlen das Schiff treffen, wachen die Matrosen auf, und Werner legt sich endlich schlafen im Schatten des Segels.
Irgendwann geht ein Ruck durch das Schiff. Werner schlägt die Augen auf und sieht weißgetünchte Häuser, eine Menschenmenge – und zum Greifen nahe einen Esel.
»Steuermann! Wo sind wir? Warum haben wir angelegt?«
»Wir sind im Hafen von El Tûr, Herr, am Fuß des Sinai. Die Matrosen sind hier zu Hause. Sie sind an Land gegangen, um ihren Frauen und Kindern Lebewohl zu sagen.«
»Wann kommen sie wieder?«
»Nicht vor morgen früh. Es steht uns eine lange und gefahrvolle Reise bevor.«
Werner steht auf und klettert die Strickleiter hoch auf den Quai. Neben dem Esel kauert ein faltiges |63| Männchen mit weißem Spitzbart. Werner zieht eine Silbermünze hervor. »Leihst du mir deinen Esel, Väterchen?«
»Kommt drauf an, was du mit meinem Esel anstellen willst, Söhnchen.«
»Reiten will ich deinen Esel. Ist dir das recht?«
»Kommt drauf an, wohin du meinen Esel reiten willst.«
»Das weiß ich nicht, Väterchen. Ich werde einfach drauflosreiten und schauen, wohin dein Esel mich trägt.«
»Dann leihe ich dir meinen Esel nicht. Mein Esel will, daß man ihm den Weg zeigt.«
»Aber ich kann deinem Esel den Weg nicht zeigen, weil ich mich hier nicht auskenne. Schau, Väterchen: Mein Schiff ist eben erst angekommen, ich bin zum ersten Mal in meinem Leben hier, und morgen früh fahre ich weiter.«
»Dann brauchst du meinen Esel nicht.«
»Hab Erbarmen, Väterchen! Ich bin allein auf dem Schiff, und in der Stadt kenne ich keine Seele. Wenn du mir deinen Esel nicht leihst, langweile ich mich zu Tode.«
Der Alte schaut müde aufs Meer hinaus. »Wenn du kein Ziel hast, brauchst du meinen Esel nicht.«
»Dann gib du mir ein Ziel! Sag mir, wohin ich reiten soll, und ich werde auf direktem Weg dorthin reiten – wenn du mir deinen Esel leihst.«
Das Männchen schnalzt mit der Zunge. »Meinetwegen. Dann geh in Allahs Namen hinauf zu den Gärten des Katharinenklosters und such die warmen Quellen. Das gefällt solchen Jüngelchen, wie du eines bist.«
|64| »Danke, Väterchen! In welche Richtung soll ich reiten?«
»Mach dir darüber keine Gedanken. Mein Esel wird dich schon hinbringen.«
Der Esel richtet sich präzis gegen den höchsten Gipfel des Sinai aus und tippelt los, vorbei an den Fischern auf dem Quai, die im Schneidersitz ihre Netze flicken, vorbei an den dunklen Pilgerkneipen, in denen abgemagerte Gestalten dünne Suppe schlürfen. Der Esel läßt die weiße Stadt hinter sich und läuft in der Nachmittagshitze hinaus in die Wüste, den Kopf immer gesenkt, wie wenn er mit seinen langen Ohren den majestätisch aufragenden Sinai aufspießen wollte. Und plötzlich ist da ein Palmenwäldchen, ein reizendes Wäldchen von ein paar hundert schlanken Palmen, die voll der herrlichsten gelben und roten Datteln hängen. Der Esel läuft geradeaus in den verstecktesten Winkel des Wäldchens. Dort steigt mächtig eine Felswand empor bis zum höchsten Gipfel des Sinai, wo einst Moses die Gesetzestafeln entgegennahm. Ganz zuunterst aber ist der Stein gebrochen, und dampfend warmes Wasser quillt heraus in einen kleinen See. Werner Munzinger steigt ab. Er ist allein; schnell zieht er sich nackt aus, wirft die Kleider auf den Sattel des Esels und läßt seinen weißen Leib ins türkisfarbene
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