Munzinger Pascha
standen wohl die drei großen Pyramiden.
Die Sonne sank: Es dunkelt schnell im Orient. Da erhob sich scheppernd und aus hunderttausend Lautsprechern die Stimme des Gebetsrufers: »Allahu akbar! Gott ist groß! O Gläubige, betet: Es gibt nur einen Gott, und Mohammed ist sein Prophet!«
Und im selben Moment warfen sich in der ganzen Stadt Millionen von Männern zu Boden; in improvisierten Gebetsstätten mitten auf der Straße, in prächtigen Moscheen, die saudische Scheichs mit Öl-Dollars gebaut hatten, überall beteten Menschen im selben Glauben zum selben Gott in feierlichem Lobgesang. Ihre Stimmen vermischten sich mit dem Tosen und Hupen der Taxis, deren ewiger Strom nicht einmal zur Gebetsstunde versiegt. Alle beteten, nur ich nicht. Verlegen warf ich einen Blick zum Kellner hinüber – er war weg. Allein saß ich da mit Alkohol und Tabak, legte Geld auf den Tisch und ging.
Vor dem Carlton strömten die Autos vierspurig über den Boulevard des 26. Juli, und zwar Stoßstange an Stoßstange, Türgriff an Türgriff, und ziemlich schnell. Auf dem Gehsteig standen Männer in bodenlangen Gewändern, spähten die Straße hoch und warteten auf ihre Chance. Und wenn ein Taxichauffeur auch nur einen Meter Abstand ließ zwischen sich und dem Vordertaxi, so sprang ein Fußgänger in die Lücke, überwand die erste Kolonne, um vor der zweiten auf seine nächste Chance zu warten, während die Dieselmotoren |69| zentimeterknapp an ihm vorbeidröhnten. So hüpften die Männer geschickt von Lücke zu Lücke; es war wie ein Computerspiel, mit dem Unterschied, daß man hier nur ein Leben zu verspielen hatte. Und wie im Computerspiel gab es auch hier die Großen Zerstörer. Das waren die dunkelblauen Stadtomnibusse, die mit siebzig Stundenkilometern über den Asphalt donnerten und alles weghupten, was sich ihnen in den Weg stellte. Die Busse ließen keinen Zweifel daran, daß sie niemals anhalten würden, nur weil ihnen ein Mensch, ein Fahrrad oder ein Mittelklassewagen unter die Räder geriet. Irgendwann gelangte auch ich auf die andere Straßenseite, und zwei Minuten später hatte ich mich hoffnungslos verlaufen. Während die Nacht aus den Ecken unbeleuchteter Hinterhöfe kroch und die Häuser immer niedriger wurden, sah ich Menschen: einen bärtigen Alten, der zahnlos lachte, brabbelte und mit seinem Stock immerfort gen Himmel deutete; ein tief in rotweißes Tuch gehülltes Mädchen, das frech unter seinem Schleier hervorblinzelte; eine alte Frau, die in einem wassergefüllten Blecheimer drei Kalbsfüße zum Verkauf anbot; zwei junge Männer, die in sehr bunten Hemden händchenhaltend durch die Nacht spazierten; einen am Boden liegenden Bettler mit schwarz geschwollenem Fuß, in dessen rissiger Haut Fliegen ihre Eier ablegten; zwei saudische Prinzen mit ihren weißen Kopftüchern, die blasiert und verschüchtert durch die Menge stolzierten; einen landlosen Bauern, der fünf Schafe durch die Stadt trieb; eine obdachlose Mutter, die sich zusammen mit ihren zwei Kindern in ein schwarzes Tuch wickelte und zum Schlafen in den Straßengraben legte. Ich sah die kleinen schwarzen Militärpolizisten, |70| die an jeder Straßenecke standen, die fliegenden Orangensafthändler, die rotgebrannten europäischen Touristen, die Juden mit den Schläfenlocken, die weißen Diplomatenkinder mit ihrem Selbstbewußtsein und ihren Kindermädchen, die Schwarzafrikaner in ihren leuchtenden Gewändern, die Männer in den Straßencafés, und ich setzte mich zu ihnen, bestellte einen Kaffee und eine Wasserpfeife – und war glücklich.
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Auf dem Weg in den Süden hat Werner Munzinger den Sinai weit hinter sich gelassen. Das Schiff folgt der arabischen Küste, wo das Meer so seicht ist, daß man im Vorüberfahren das Farbenspiel der Korallenbänke beobachten kann. Am 17. August 1853 erreicht Werner den Wendekreis des Krebses und damit die Tropen. Aus dem Süden bläst ein heißer Monsunwind und peitscht meterhohe Wellen vor sich her, das Schiff torkelt wie betrunken vorwärts, die Sonne geht blutrot unter im strömenden Regen. Vom afrikanischen Festland spannt sich ein Regenbogen weit ins Meer hinaus, und Werner kotzt und würgt bis zur Erschöpfung. Nach Einbruch der Dunkelheit essen die Matrosen Reis aus bruchfesten, hölzernen Schalen. Werner Munzinger will nichts, überhaupt nichts mehr. Wie hingemordet liegt er nah beim Mittelmast, wo das Schiff am wenigsten schaukelt, und der Regen prasselt ihm aufs Gesicht.
Fünf Tage später
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