Murats Traum
die totale Funkstille geherrscht zwischen uns – über zwei verdammte Wochen. Während der ganzen Zeit hatte ich ihn nicht ein einziges Mal anzurufen versucht, obwohl ich jeden Tag an ihn denken musste ...
«Ich weiß, warum du ihn nicht anrufst», sagte Philipp.
«Ach, ja? Und warum nicht?»
«Weil du ihm sagen mü sstest, dass du bei mir bist.»
Das war der Punkt, ich nickte deprimiert.
«Warum ist es so schwer?»
«Ich weiß nicht. Vielleicht ist es jetzt gar nicht mehr schwer.»
«Bist du verliebt in ihn?»
«Quatsch. Blö dmann. In dich.»
«Aber in ihn auch.» Philipp überlegte. «Auf diese besondere Weise, wie in den großen Bruder, der einen beschützt.»
«Sag bloß .»
«Aber sicher. Hast du dir nie gewünscht, dass er dich in den Arm nimmt?
«Macht er doch», behauptete ich trotzig und ging zum Angriff über. «Warum kannst du Murat nicht leiden?»
«Halt, das ist falsch. Ich denke, er hat es schwer, viel schwerer als wir. Aber ich mag ihn. Doch, am Meer habe ich ihn gern gemocht. Und auß erdem ... Ich finde ihn verdammt attraktiv.» Philipp konnte sehr ironisch sein, und ich war ihm dankbar, dass er sich damit zurückhielt. Er meinte nachdenklich: «Offen gesagt, habe ich mich immer gefragt, wie er das schlucken wird, dass wir beide jetzt zusammen sind.»
Ich schwieg voll dunkler Vorahnungen, und gleich am nächsten Vormittag machte ich mich auf den Weg. Es war schätzungsweise der heißeste Tag des Jahres, doch das war nicht der Hauptgrund, warum ich nach langem Hin und Her bei meinem Sommerfrischler-Outfit blieb. Ich wollte zu meinen Veränderungen stehen, ganz einfach, und als ich am Herrmannplatz aus der U-Bahn hochkam, merkte ich sofort, dass mir unser altes Viertel keine Sekunde gefehlt hatte.
An zwei Dö nerbuden, wo man uns kannte, fragte ich nach Murat. Beide hatten ihn gestern erst vorbeigehen sehen – das war ja schon mal was.
Ich bog in die Straße ein, die zum Baumarkt führte. Meine Mutter zog ihre Gummihandschuhe aus, als sie mich kommen sah, und fiel mir um den Hals. «Geht’s dir so gut, wie du aussiehst?» Sie schwitzte wie ein Bergarbeiter und musterte mich gründlich. «Komisch. Jetzt erinnerst du mich voll an deinen Vater.»
«Na, danke.»
« Nee, damals, als er so alt war wie du. Und unsterblich verliebt. Und immer konnte. Und wollte und sollte! War im Rückblick nicht lang, die Zeit. Aber da hat er genauso geleuchtet, von innen heraus ... Hättest übrigens ruhig mal anrufen können.»
Ich versprach, mich zu bessern.
«Und hat dich Murat erreicht?» Sie sah mich so schräg von unten an, da stimmte irgendwas nicht. «Er war bei uns, gleich an dem Wochenende, wo du weg bist. Hattest wohl dein Handy abgestellt. Ich hoffe ... Also, wie er da vor mir stand – von wegen, bloß ein Kumpel. Erzähl mir nichts. Als ich ihm sagte, dass du jetzt bei Philipp wohnst, wurde er ziemlich blass um seine hübsche Nase. Ich hab ihm noch eure Nummer gegeben, und dann war er auch schon weg. Hab ich Mist gebaut? Aber wer sieht denn bei euch noch durch?»
Also wusste Murat, wo ich steckte, seit zwei Wochen wusste er es schon. Mir war ziemlich elend, als ich den Baumarkt verließ. Die Mittagssonne brannte tropisch grausam auf den Parkplatz, wo Philipp damals auf mich gewartet hatte. Plötzlich kamen mir meine Tage bei ihm falsch vor. Ich hätte nie bei ihm einziehen dürfen, streng genommen war das ja auch noch nicht wirklich
passiert ...
Ich war völlig erschlagen von der Hitze und von meinen Selbstvorwürfen. Hatte ich einen Fehler gemacht? Wir waren immer ehrlich miteinander umgegangen, Murat und ich, und falls die Lü ge zwischen uns eingesickert war, trug ich alleine die Schuld daran. Hatte ich unsere Freundschaft in den Sand gesetzt und Murat für immer verloren?
Meine nächste Station war ein Fabrikhinterhof, Murats Studio, wo sie mit allen möglichen Killersportarten ihre Zeit totschlugen und bekannt dafür waren, dass sie lieber unter sich blieben. Zum Glück waren aber zwei Typen da, die mich vom Sehen als Murats Kumpel kannten. Nein, er wäre schon länger nicht aufgetaucht, mehr könnten sie mir auch nicht sagen. Sie warteten, dass ich abhaute. Es sei sehr wichtig, beharrte ich, doch ohne Erfolg. Ich spürte, dass sie mir etwas verschwiegen, aber was sollte ich machen? An den jü ngeren der beiden erinnerte ich mich noch aus der Hauptschule, Libanese, zwei Klassen unter mir, hatte auf dem Hof immer heftig eingesteckt. Inzwischen sahen seine Muskeln steinhart aus,
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