Murats Traum
zärtlich, doch der Kleine steckte bereits zu tief in seinem Abenteuerfilm. «Los, wir befreien ihn! Ich hau die Säcke um, und wir holen Murat da raus!»
Wir mussten lachen, und sofort stach der Schmerz in meinem Kopf wieder zu. Die andern verstummten erschrocken und wechselten auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer. Ich blieb allein zurück. Draußen wurde es inzwischen dunkel. Die überhitzte Stadt entspannte sich. Das Schlafmittel begann zu wirken. Nebenan hörte ich die Stimmen meiner Freunde, und ohne zu wissen warum, fühlte ich mich plö tzlich glücklich.
«Oliver?» Carlos war zurückgekommen, um mich noch etwas zu fragen. «Sag mir die Adresse. Wo finde ich diesen Jamal?»
Ich kämpfte mit den Tränen. Obwohl ich gar nicht wusste, was er eigentlich vorhatte, fragte ich kleinlaut: «Warum willst du das tun? Fü r wen?»
«Für Paul?» Carlo verzog unschlüssig das Gesicht. «Und für Murat? Und für dich? Für unsere kleine Familie?»
Erst am Vormittag wurde ich wieder wach. Vorsichtig befühlte ich mein Arschloch, aber ich hatte mich wohl gestern getäuscht; es schien Jamal und den Dicken unverletzt überstanden zu haben. Auch meinem Kopf ging es deutlich besser. Nur ruckartige Bewegungen mochte er noch nicht. Schemenhaft erinnerte ich mich, dass Philipp und Paul neben mir geschlafen hatten, einer links, einer rechts. Jetzt war die Wohnung leer. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel für mich, festgehalten von meinem Lieblings-Joghurt. Liebster, ich hasse es, aber ich muss zu einer Besprechung. Spätestens um 3 zurück!!! Dann koche ich uns was und pflege Dich gesund! Morgen frei!!! Rühr Dich nicht vom Fleck! Ich liebe Dich. Dein Philipp. PS: Handy bleibt an.
Ich stand im offenen Kü chenfenster und schlabberte meinen Joghurt, als die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. War Philipps Termin geplatzt? An Carlo, der ebenfalls noch einen Schlüssel hatte, dachte ich erst mal nicht. Bis ich seine Stimme hörte. «Gut geschlafen?» Er sah fertig aus. «Ich hab dir jemanden mitgebracht. Hatten ’ne schlimme Nacht. Wahrscheinlich lass ich euch jetzt besser allein ...» Er blickte mir prüfend ins Gesicht, und ich bewegte meine Lippen, was ungefähr danke und ja und hau ab hieß – ich brachte keinen Ton heraus.
Wir hörten die Tür hinter Carlo zufallen.
Murat lehnte im Flur an der Wand, schüchtern und grau im Gesicht, das er gesenkt hielt. Er fuhr zusammen, als ich seinen Namen sagte. Ich stellte den leeren Joghurtbecher aufs Fensterbrett und wartete, dass er mich ansah. Es fiel ihm schwer, aber er wusste, dass es nicht anders ging. Also hob er endlich den Kopf. Ich kann kaum sagen, was es in mir auslöste. Jedenfalls wusste ich sofort, dass zwischen uns nichts vorgefallen war, das mein Gefühl für ihn auslöschte. Jetzt war er hier – das zählte. Ich ging einfach zu ihm hin und nahm ihn in die Arme. Ein lautloser Weinkrampf kroch durch seinen Körper, und schließ lich schlang auch Murat seine Arme um mich.
Er roch wie zwei kollidierte Bier-Laster. Ich fragte ihn nicht, auch später nie, was mit Carlo gewesen war. Das blieb ihre Geschichte. Ich fragte ihn überhaupt nichts. Ich sagte nur: «Schlaf erst mal ’ne Runde. Komm.»
«Ich fühl mich so dreckig», murmelte er.
Zwar ahnte ich, dass er etwas anderes meinte, zeigte ihm aber trotzdem das Bad. Er stürzte zum Klo und pisste wie ein Pferd. «Wenn du noch duschen willst ...» Ich wies aufs Regal mit den Handtüchern und ließ ihn
allein.
Ich zog im Wohnzimmer die Vorhänge zu und bereitete auf dem Sofa ein Schlaflager für Murat. Er rief nach mir, und ich ging rüber ins Bad. Seine Sachen lagen auf dem Wäschekorb, er stand nackt vor dem Spiegel, Philipps Haarschneidemaschine in der Hand, und blickte an sich herunter. Er hatte seine Schamhaare abrasiert, sie lagen zwischen seinen Füßen auf den Fliesen. «Bitte ...» Er hielt mir die Maschine hin und neigte seinen Kopf. « Ich will, dass du es machst.»
«Bist du sicher?»
Er nickte.
«Und wenn du hinterher aussiehst wie ...»
«Wie frisch aus’m KZ? Fang an.» Er kniete sich mit gesenktem Gesicht vor mich hin wie einer, der zum Ritter geschlagen wird – oder geköpft. Ich setzte das Scherblatt an, Bahn für Bahn, und seine geliebten Haare, die immer so viel Zeit beansprucht hatten, fielen in dicken, schwarzen Flocken auf den Boden und auf seine Schultern.
« Krass!» Er fletschte seine Zähne, als ich fertig war und er in den Spiegel sah. Ich fragte ihn nicht um Erlaubnis, um seine
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