Murray, Paul
Gleichgültigkeit und allgemeine Herzlosigkeit betreffend, und für eine im
Ton höfliche, aber unversöhnliche Gefühlskälte entschieden. Allerdings schien
schon jetzt alles durcheinander zu geraten. Denn sie - die etwas über mir
stehen geblieben war und deren Hand wie die Blüte einer edlen Kletterpflanze
auf dem Treppengeländer ruhte - schien felsenfest davon überzeugt, dass ich es gewesen
war, der sie vernachlässigt hatte. »Und ich
hatte gedacht, damals abends nach dem Stück, dass wir uns wundervoll unterhalten
hätten«, sagte sie. »Aber dann bist du einfach verschwunden. Du hast dich
nicht mal verabschiedet.«
Ich konnte
nur glotzen. War ich etwa wieder im Spiel? Hatte sie etwa die ganze Zeit nach
mir geschmachtet?
»Du siehst
gut aus, Charles?«, sagte sie leise und trat hinunter auf die vorletzte Stufe.
»Die haben
den Verband gewechselt«, hauchte ich.
Wer weiß,
was geschehen wäre, wenn es ihr gestattet gewesen wäre, auch noch die letzte
Treppenstufe hinunterzugehen. Doch unser Idyll wurde ohne jede Vorwarnung
zerstört - von Mrs P, die aus der Garderobe zurückkam, sich hinter mir aufbaute
und zu einem wortreichen und, nach dem Klang zu urteilen, höchst tadelnden
Vortrag auf Bosnisch anhob.
»Mama,
würdest du bitte Englisch reden?«, rief Mirela. Daraufhin erhöhte sich
lediglich die Lautstärke der Tirade. »Warum kann das nicht einer von den Jungs
machen? Die sitzen bloß rum und spielen Backgammon.«
Mrs P
verschränkte die Arme und schaute ihrer Tochter direkt in die Augen; einen
Augenblick lang hielt Mirela stand, dann knickte sie ein. »Schon gut, schon
gut, nur für den Fall, dass es jemand vergessen haben sollte ... Meine Mutter
ist das Hausmädchen.« Sie wandte sich flehentlich an
mich. »Tut mir Leid, Charles. Vielleicht können wir ja später noch reden.« Ich
spürte ihre kühle Haut, als ihre Hand über die meine strich und meine Finger
drückte. Dann reckte sie den Kopf in die Höhe und marschierte durch die Halle,
wobei die Prothese trotzig über das Parkett klackerte.
»Sie sehen?«,
sagte Mrs P mit vorwurfsvoller Stimme. »Alle sind soo wichtig!«
»Ja«,
sagte ich schwach und streichelte die Finger der glücklichen Hand. »Ja.«
Mrs P nahm
das Kuchentablett wieder auf. »Ich muss das jetzt bringen zu den andern. Haben
Sie schon gegessen Lunch, Master Charles?«
»Hmm?
Lunch? Was ist das noch mal?«
»Ich mache
Ihnen ein Sandwich, ja?«
»Nein,
nein, Mrs P, nicht doch, es ist alles bestens, Sie haben sicher genug zu tun,
auch ohne ...«
»Oder
vielleicht etwas Käse, ja?«
»Käse ...
hmm.« Es war schon ziemlich lange her, dass ich ein anständiges Stück Käse
gehabt hatte. »Wissen Sie was, Mrs P? Sie kümmern sich um den Käse, und ich
erledige das mit dem Tablett. Sie müssen mir nur sagen, wo ich es hinbringen
soll.«
»Master
Charles, Sie sind immer so nett.« Sie sagte, dass der Kuchen für die
Schauspieler im Musikzimmer sei, tätschelte müden Arm und watschelte in die
Küche, aus der Sekunden später Vuk und Zoran auftauchten, die wie
aufgescheuchte Katzen an mir vorbeischossen und Richtung Gartenschuppen
verschwanden.
Jetzt, da
sie es erwähnt hatte, fühlte ich mich tatsächlich ziemlich ausgehungert. Ich
aß also die restlichen Küchelchen und trank den Orangensaft. Dann ging ich ins
Musikzimmer, wo sich praktisch die gesamte Menagerie zum Proben eingefunden
hatte. In einer Ecke stritten sich ein kleiner Dicker und ein Mädchen mit
Haarspangen über einen Hut und ob der auch wirklich gerichtssaalmäßig aussehe; einige saßen im Lotussitz an der Wand, mit geschlossenen
Augen, die Lippen bewegend. Die meisten jedoch gingen auf und ab, das
Manuskript in der Hand, die Stirn gerunzelt, vor sich hinmurmelnd. Irgendein
sechster Sinn schien sie davor zu bewahren, sich gegenseitig über den Haufen zu
rennen. Ein ziemlich unheimliches Bild, man kam sich vor wie auf einem Kongress
für Schlafwandler.
»Mein
Liebling!« Mutters Stimme, hinter mir. »Wie schön, dass du mich besuchen
kommst! Wie schrecklich blass du aussiehst, mein Lieber. Setz dich doch,
erzähl, was ist passiert?«
»Hallo,
Mutter. Ach, nichts eigentlich. Schätze, ich bin nur ein bisschen übermüdet.«
»Was?« Sie
schaute verwirrt von ihrem Manuskript auf. »Hallo, Charles, was machst du denn
hier?«
Ȁh ...
Ich wollte euch bloß den Rollstuhl vorbeibringen.«
»Der Rollstuhl,
wunderbar. Das muss gleich einer Bel sagen, der ist für ihre Rolle. Charles,
warum trägst du das
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