Murray, Paul
die Herde
einen Bereich geräumt hatte, rückten sie ein und sperrten ihn mit
Plastikgittern ab. Wir waren jetzt stumm; jeder war mit seinen eigenen Gedanken
beschäftigt.
Am Tor
hatte sich eine lange, nur langsam vorrückende Schlange gebildet. Einer der
Uniformierten händigte Schecks aus. Nur wenige der ausbezahlten Männer standen
noch kurz zusammen. Kopfschüttelnd wechselten sie ein paar Worte und trotteten
dann in Zweier- oder Dreiergrüppchen davon. Aus einem Sattelschlepper, der vor
der Laderampe an der Rückseite des Fabrikgebäudes stand, rollten andere
Uniformierte Kisten, die etwa die Größe der neuen Roboter hatten.
Bobo,
Arvids und der Rest der Christstollenabteilung gehörten zu den Letzten, die
das Gelände verließen.
»Name?«
Der Uniformierte hatte einen dichten Stoppelbart, an seinem Gürtel hing ein
Schlagstock. Ich fragte mich, ob auch er und seine Kollegen speziell für diese
Aufgabe von der Agentur angemietet worden waren.
Ich nannte
meinen Namen. Er ging die Liste auf seinem Klemmbrett durch, fand den Namen,
strich ihn durch und gab mir einen Umschlag. Als ich durch das Tor trat, kam
mir der Gedanke, dass Sirius Recruitment, um die Gehaltsschecks ausstellen zu
können, schon seit einigen Tagen von den Entlassungen gewusst haben musste.
Ich schaute auf die Zahl unten auf dem Scheck und rechnete im Kopf kurz nach.
Wenn ich richtig lag, dann hatten sie uns bis um halb zwölf heute Morgen
bezahlt, keine Minute länger.
»Ich
kann's nicht glauben«, sagte Bobo und starrte mit leerem Blick auf das Stück
Papier in seiner Hand.
»Ich
weiß«, sagte ich. »Elende Pfennigfuchser ... Ich wette, diese Typen würden zu
einer Essenseinladung nicht nur keinen Wein mitbringen, die würden auch noch
drei Tage vorher hungern. Verdammte ...« Dann flatterte Bobos Blatt Papier auf
den Boden. »Was ist los?«
Bobo fiel
auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Ich jagte dem fröhlich durch
den Rinnstein segelnden Scheck hinterher und bekam ihn zu fassen. Ich wischte
den Dreck ab. In der obersten Zeile stand bobodan >bobo< bobeyovich und daneben
die gleiche Ziffer wie bei mir, die sich aus Arbeitslohn, Nachzahlung und der
Summe für nicht genommene Urlaubstage zusammensetzte. Doch darunter stand: abzüglich Agenturgebühr 1500.00, darunter abzüglich Unterkunft 108 Tge. á 8.58/Tg.,
dann abzüglich Abwicklung
Visumsformalitäten, abzüglich Zustellungskosten Visum, abzüglich Flug und Versicherungen und so
weiter und so weiter, abzüglich, abzüglich, abzüglich , bis man ganz unten bei einem
kleinen blauen Kästchen anlangte, in dem man die übersichtliche Endsumme
erfuhr: netto 000.00.
Ich pfiff
leise. Dann hörte ich hinter mir ein Geräusch, drehte mich um und sah, wie das
Tor geschlossen und ein schwerer Riegel vorgeschoben wurde. Auf der anderen
Seite standen zwei Uniformierte mit verschränkten Armen und schauten mich an.
Arvids,
Edvin und Dzintars, an deren nahezu identischer Körperhaltung ihre
Hoffnungslosigkeit abzulesen war, setzten sich nun in Bewegung. Pavel half Bobo
wieder auf die Beine, und alle zusammen trotteten sie die Straße hinunter - und
ich mit dem wertlosen, zerknüllten Scheck in der Faust hinterher. Der Himmel
hing schwer, stumpf und kalt über uns. Was passierte mit meinem Leben?
Funktionierte so die reale Welt? Stolperten wir denn alle nur mit geschlossenen
Augen herum, wie in einem Sandsturm, der jeden Schritt im nächsten Augenblick wieder
verwischt? Wir kamen zu der Kreuzung, wo es links zu den Baracken der Letten
ging und ich weiter geradeaus musste zur Bushaltestelle.
»Wo wollt
ihr jetzt hin?«, fragte ich. »Was wollt ihr machen?«
»Die
Agentur anrufen«, sagte Dzintars.
»Die
Agentur anrufen? Nach dieser Geschichte?«
Dzintars
zuckte mit den Achseln.
»Keine
Agentur, kein Visum«, sagte Edvin.
»Aber ...«
Ich stand da und kaute auf meinen Wangen. Ich konnte sie doch nicht einfach so
gehen lassen. Man konnte doch nicht zulassen, dass sich die B-Schicht einfach
so auflöste, wie Gespenster am Nachmittag, als ob es die letzten paar Wochen
nie gegeben hätte. Und doch schien es so, als gäbe es nichts mehr zu sagen. Bis
auf...
»Chin-chin«,
sagte Bobo und klopfte mir auf die Schulter. »Bis dann mal, alter Junge.«
»Chin-chin,
Arschgesicht«, sagten die anderen und nickten mir zu. Dann zogen sie die
Christstollen aus ihren Taschen und gingen den Hügel hinauf.
(Szene.
Baufälliges Chateau an der Marne. Auftritt frederick, ein Graf, und babs,
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