Murray, Paul
für den Bruchteil einer Sekunde keine Sorgen machen würdest.
Ich hab das nie verstanden, das waren doch glückliche Zeiten damals ...« Bel hatte
noch ein paar Blumen aus dem Strauß gezupft und hielt sie sich jetzt wie einen
Fächer vors Gesicht. »Weißt du noch?«, sagte ich kichernd. »Wir haben immer so
getan, als wär deine
Matratze ein Floss und die Treppe der Fluss, und dann sind wir vor den Leibeigenen
geflohen. Oder wie wir Szenen aus Eugen Onegin nachgespielt
haben und du immer sauer auf mich warst, weil ich deiner Meinung nach nicht
traurig genug war, wenn du mir gesagt hast, dass du mich nicht liebst?« Der Fächer,
den der leiseste Luftzug erzittern ließ, nickte fast unmerklich. Ich rieb mir
aufgeregt das Kinn. »Weißt du noch, wie wir Vater beim Make-up-Erfinden
geholfen haben? Er hat uns Plakatfarben gegeben, und du hast dich als
Tinkerbell herausgeputzt und ich mich als Bela Lugosi. Ich war hundertprozentig
davon überzeugt, dass das eine Marktlücke ist, dass man mit
Bela-Lugosi-Make-up ein Vermögen machen könnte. Was ist?«
Bel hatte
den Fächer heruntergenommen und schaute mich ärgerlich an. »Das waren nicht immer
glückliche Zeiten«, sagte sie. »Es gab auch Sachen, die vergisst man besser.«
»Was
meinst du?«
Sie
verdrehte die Augen. »Ach nichts«, sagte sie. »Es ist spät.
Geh
schlafen.« Sie tat so, als bemerkte sie nicht, dass ich sie anstarrte, und
streckte die Hand aus. »Die Marke.«
Ich
schloss die Finger um die Marke und ließ langsam den Arm sinken.
»Sei nicht
kindisch, Charles, gib sie schon her.«
»Sag mir
erst, was du gemeinst hast.«
»Nichts,
ich hab nichts gemeint.« Ihr ärgerliches Gesicht hatte die Farbe von Roter Bete
angenommen.
»Es war
nicht nichts. Sonst hättest du es nicht gesagt. Außerdem, wofür brauchst du
das alte Ding eigentlich? Da steht nicht mal ein Name drauf?«
»In Gottes
Namen, dann behalt's eben!« Wütend drehte sie sich um. Sofort tat es mir Leid.
Ich kam mir vor wie ein Trottel und wollte mich gerade entschuldigen und ihr
die Marke geben, als sie wieder herumwirbelte und mich überrumpelte.
»Aua! Was
soll das?«
»Lass los,
Charles.« Sie bohrte mir die Fingernägel in die Hand und versuchte mir die
Marke zu entreißen. Ich stieß sie zurück, und sie drückte mir ihren Ellbogen
gegen die Brust, um einen besseren Hebel zu haben. So kämpften wir eine Minute
lang herum, bis ich ihr den Arm verdrehte, um sie endlich abzuschütteln. Anscheinend
hatte ich aber zu fest zugepackt, denn sie taumelte zurück und fiel rücklings
auf den Boden.
»Oh,
Scheiße.«
»Fass mich
nicht an!«
»Das
wollte ich nicht, ich bin nur...«
»Betrunken, und ob, du bist immer betrunken.«
Sie wälzte sich unter meinem ausgestreckten Arm hindurch auf die Seite und
lehnte sich mit dem Rücken an ein Bein der Chaiselongue.
»Es tut
mir Leid«, sagte ich. »Es ist doch nicht gebrochen oder?« Sie antwortete nicht,
sondern saß nur mit angezogenen Knien neben ihrem Koffer und massierte sich das
Handgelenk.
»Das war
keine Absicht«, sagte ich mit schlechtem Gewissen.
»Ist nur
so, dass ich einfach nicht verstehe, warum du alles schlecht machen musst.«
»O Gott!
Lass mich einfach in Ruhe, okay?«
»Doch, das
stimmt, Bel. Dir fällt das vielleicht gar nicht auf, aber...«
Sie hob
den Kopf und schaute mich an. Die Schmerzen hatten ihr Tränen in die Augen
getrieben. »Kannst du denn nie aufhören damit?«
»Aufhören
womit?«
»Warum
zwingst du mir immer und immer wieder die gleiche Diskussion auf?«
»Tu ich ja
gar nicht.«
»Und ob du
das tust, in deinen ewigen glücklichen Erinnerungen und
Was-waren-wir-doch-für-gesegnete-Kinderlein-Geschichten sieht es so aus, als
hätte ich die ganze Zeit ein total anderes Leben gelebt. Du hast nicht die
geringste Ahnung, wie ich mich dabei fühle.«
»Wovon
redest du eigentlich?«
»Von der
Art, wie du über uns beide redest, davon, dass alle deine
Geschichten Kindergeschichten sind, als ob nichts mehr passiert wäre, nachdem
wir älter als zehn waren; und davon, dass du alles Schlechte übertünchst und
einfach vergisst.«
»Ich
übertünche gar nichts.«
»Als ich
im Krankenhaus war, warum redest du nie darüber? Ist das etwa nicht passiert?
Du hast doch selbst den Krankenwagen gerufen, oder nicht? Oder habe ich mir
das nur eingebildet?« Die Glutasche des Kaminfeuers gab ihrem Gesicht einen
tiefroten, blassen Glanz. Hektisch massierte sie ihr Handgelenk und fuhr sich
mit dem Ärmel über die
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