Murray, Paul
auf, Häuser
brennen nicht mehr, aber... Wie dieser Teller hier.« Sie nahm ein Teil von
Mutters Wedgwood-Speiseservice von der Anrichte und fuhr mit dem Finger über
die verschlungenen Verzierungen am Rand. »Wenn auf den Boden fällt, dann ist
Teller kaputt. Tausend kleine Teile. Man kann Teller wieder zusammenkleben,
aber das Muster, das an jeder Stelle fast zusammen, bleibt kaputt. Weg, für
immer. Häuser und Familien, Freunde, die reden auf Marktplatz, Kindern toben
und spielen auf Straße, Männer bauen und essen Sandwich in Sonne und schauen
hinter schönen Mädchen. Kaputt. Weg, für immer.«
»Achtung,
lassen Sie den Teller nicht fallen«, sagte ich hastig und riss ihr den Teller
aus der erhobenen Hand. Mitternachtsfrühstücke waren eine Sache, aber
vorsätzliche Tellervernichtung war etwas vollkommen anderes. Die Frau schien
ernstlich verwirrt zu sein. Vielleicht sollte ich den Burschen im Cedars anrufen,
damit er sie sich mal anschaute. »Was ist mit Ihrer Familie passiert?« Ich
wollte sie auf friedlicheres, für unser Geschirrgut weniger bedrohliches
Terrain lotsen. »Wie geht's ihr?«
Sie wollte
gerade antworten, doch dann hielt sie inne und schaute mich neugierig an.
»Warum fragen Sie das?«
»Nur so.
Ich weiß fast nichts von Ihnen. Ist doch komisch, oder? Sie wohnen jetzt schon
so...«
»Viele,
viele Fragen«, sagte sie.
»Na ja,
ich meine, die Welt ist doch ein großes Dorf, oder? Völkerverständigung und
so.«
Sie
verstand nicht. »Viele Fragen«, sagte sie gedankenverloren. Dann schaute sie
mich an und sagte in ungewohnt bitterem Ton: »In Jugoslawien, Männer kommen mit
Fragen. Ist nicht gut, wenn sie kommen.«
Gehörte
ich jetzt schon zur Geheimpolizei? »Sie brauchen mir ja nicht zu antworten«,
sagte ich. »Wenn Sie mir vom Elend Ihrer Familie erzählen wollen, gut, wenn
nicht, ist es mir auch egal. Ich will bloß nett sein. Ich weiß sowieso
Bescheid, schließlich schau ich ja Nachrichten.«
»Sie
wollen wissen über meine Familie?«, rief sie aufgebracht. »Gut. Vor fünf
Jahren, mein Mann ist Architekt, und ich geben Rechtshilfe für Leute ohne Geld,
zwei Söhne in Universität, eine Tochter will werden berühmte Schauspielerin.
Und jetzt? Nichts. Haus weg, Geld weg, wir verstecken uns, dann wir fliehen...«
Sie schlug sich die Schürze vors Gesicht. An der Stelle über der Nase hüpften
kleine Entchen auf dem Baumwollstoff auf und ab.
Ich hatte
nicht mal gewusst, dass sie Kinder hatte. »Wo sind sie?«, fragte ich so sanft
ich konnte.
»Und jetzt
ich backen Zimtschnecken für Sie!«, sagte sie schluchzend und lief aus der
Küche.
Was konnte
ich tun? Ich konnte ja schlecht hinter ihr herlaufen; schließlich war sie die
Haushaltshilfe, ihre privaten Geschichten waren nun wirklich nicht meine
Sache. Sich mehr um sie zu kümmern, war möglicherweise doch keine so gute Idee
gewesen. Wir wussten tatsächlich nicht das Geringste über sie. Eines Tages
stand sie einfach vor der Tür. Sie kam auf eine Anzeige, die, wie wir später
erfuhren, auf mysteriöse Weise ins Schaufenster des Zeitungshändlers im Ort
gelangt war. Wie es sich begab, hatte Mutter ohnehin daran gedacht, eine neue
Hilfe einzustellen, da die letzte, ein entzückendes kleines Aupairmädchen aus
Frankreich, einige Monate zuvor das Haus verlassen hatte, nachdem es auf
unserer Weihnachtsparty zu einer Misshelligkeit mit Pongo McGurks gekommen war
- der natürlich völlig unschuldig war, aber man weiß ja, wie Aupairmädchen
sind. Und so war Mrs P in unseren Haushalt gekommen. Damals ging es Vater schon
sehr schlecht, und niemand hatte je daran gedacht, sie nach ihrer Vergangenheit
zu fragen. Erst jetzt kam mir der Gedanke, dass ihr das vielleicht ganz recht
gewesen war.
Nachdenklich
aß ich noch eine Zimtschnecke, nahm dann das Blech und ging nach oben in Vaters
Arbeitszimmer. Ich kaute vorsichtig; der Punkt war, dass man sich der Güte
ihrer Koch- und Backkünste nicht mehr sicher sein konnte. Es schmeckte gut,
aber wer konnte wissen, welche Ingredienzen in die Rührschüssel gewandert
waren, verwirrt, wie sie war? Und wenn nicht heute, was war morgen beim
Frühstück? Oder beim zweiten Frühstück? Dem Lunch? Zum Tee? Zum Abendessen? Und
übermorgen folgte die nächste tödliche Runde, russisches Roulett, mit jedem
Bissen drehte sich die Trommel ein Stück weiter...
Ich kam zu
dem Schluss, dass ein oder zwei Glas Wein meine Nerven beruhigen würden, und
ging in den Keller. Hmm. Ich sah jetzt, was Bel meinte. Die
Weitere Kostenlose Bücher