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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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Vorräte hatten in
letzter Zeit tatsächlich starke Verluste erlitten. War es möglich, dass ich
eine derartige Menge ganz allein vertilgt hatte? Oder konnte es sein, dass ich
Hilfe von anderer Seite gehabt hatte? Ich ballte die Fäuste und stieß einen
Fluch aus. Frank! Ich sah ihn direkt vor mir, wie es ihn im Laderaum seines
verrosteten weißen Lieferwagens lautlos schüttelte vor Lachen, während er aus
der Flasche einen Marsannay in sich hineinschüttete. Oder auf der
Hunderennbahn, wo der grüne Flaschenhals aus dem Kragen seiner Windjacke hervorlugte,
während er den Erlös für unsere Ottomane durchbrachte. Oder ... Plötzlich
schoss mir ein neuer Gedanke durch den Kopf: Vielleicht war es gar nicht Frank,
vielleicht hatte Mrs P den Wein getrunken. Vielleicht war sie eine heimliche
Trinkerin, wie die Frau, die für Boyd Snooks die Wäsche machte und die er schlafend
im Hundekorb gefunden hatte. Würde das ihr seltsames Verhalten nicht erklären?
Natürlich nur, wenn es kein Symptom ihres Zusammenbruchs war ... Allmächtiger,
wir lebten mit einer Zeitbombe!
    Zur
Beruhigung meiner Nerven schnappte ich mir einen Premier
cru und ging zurück in Vaters Arbeitszimmer. Der Mond war zwar
nur ein Schatten seiner selbst, trotzdem ließ ich das Licht aus. Ich setzte
mich an den Schreibtisch, schenkte mir ein Glas ein und prostete Vaters Porträt
zu - nur für den Fall, dass sich irgendwo unter dem giftigen Öl und Blei noch
Reste seines Geistes versteckten, die mir vielleicht einen Ausweg aus meiner
Bredouille hätten weisen können. Doch mein Glas leerte und füllte sich, bis die
Flasche leer war, und immer noch saß ich im Dunkeln.
    Ich wandte
den Kopf zum Fenster und schaute hinaus zum Turm, den die Nacht fast ganz
verschluckte. Der Turm war meine Idee gewesen. Ich hatte wie üblich eine Runde
im Park gedreht, als mir aufgefallen war, dass wir keinen hatten. Und da sich
anscheinend niemand sonst darum kümmern wollte, bestellte ich die Bauarbeiter.
Das war vor knapp einem Jahr gewesen, doch immer noch war der zum Prunkstück
unseres Anwesens ausersehene Turm weit von seiner Fertigstellung entfernt.
Diese Woche waren die Bauarbeiter nicht jeden Tag da gewesen; vielleicht
befanden sie sich im Streik, aus dem einen oder anderen Grund streikten sie immer.
Anders als die meisten Bauarbeiter, von denen man hört, waren diese sehr
anständig. Bei jedem Kinkerlitzchen traten sie in Streik, aus Solidarität mit
den Krankenschwestern oder den Maurern oder den Beschäftigten irgendeiner
anderen Branche oder oft auch aus mehr allgemein humanitären Gründen. »Wir
können nicht weiterarbeiten«, sagte mir der Vorarbeiter einmal mittags in der
Küche. »Erst muss die UN was wegen Indonesien unternehmen, das wird ja langsam
lächerlich.« (»Wie wahr«, sagte ich, und dann zogen sie los und standen Streikposten
vor dem Nike-Laden in der Stadt.) An einem Dienstagmorgen legten sie mal ihr
Werkzeug aus der Hand und erklärten: »Diese ganze Kurdengeschichte, die ist
einfach nicht mehr zumutbar, Mr Hythloday, und die Amis, die machen alles nur
noch schlimmer.« (»Ich weiß«, sagte ich seufzend, und sie nahmen ihre
Transparente und machten sich auf den Weg zur türkischen Botschaft.) Und jede
Wendung in der Palästinafrage bot ohnehin Anlass für einen freien Tag pro
Woche.
    »Der Punkt
ist, dass es einfach nicht richtig wäre zu arbeiten, wenn solche Sachen
laufen«, argumentierten sie mit einigem Recht. Trotzdem schien die Welt sich
nicht zu bessern, und folglich kam auch der Turmbau nur sehr langsam voran.
Sie erlaubten mir auch immer noch nicht, ihn zu betreten, und sie konnten mir
auch nicht genau sagen, wann das gefahrlos möglich sein würde. Aber irgendwie
war es mir fast lieber, dass sie es so machten, wie sie es machten. Während
ich das Gerippe betrachtete, sah mein inneres Auge schon den stolz aufragenden
Turm und seine prachtvolle Zukunft. »Freiheit!«, schien er auszurufen. Und
dann, gerade als ich den Kopf abwenden wollte, sah ich etwas: ein
engelsgleiches Gesicht, das aus einem der schmalen Fenster lugte. Es war ein
sehr schönes Gesicht, gemalt in den erlesensten Grau- und Silbertönen des von
Wolken gedämpften Mondscheins. Das Gesicht sah mich, lächelte und winkte. Ich
winkte zurück, worauf es verschwand.
    An dieser
Stelle sollte ich erwähnen, dass solche Dinge nicht völlig neu für mich waren.
In den vergangenen Monaten hatte ich so manche übernatürliche Erfahrung
gemacht. Seit Mutter außer Haus war und

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