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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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ihre Nörgelei mich nicht mehr ablenken
konnte, so meine Theorie, war ich für Botschaften aus der Geisterwelt
empfänglicher. Über den Schauer, das heißt, die Gewissheit, dass die Spätfilme
mich aus dem Fernseher anschauten, habe ich schon gesprochen. Oft waren die
Visionen jedoch von feindseligerer Spielart. Wenn ich mich nach einer langen
Nacht aus dem Fenster lehnte und meinen aufgewühlten Verstand zu besänftigen
suchte, hatte ich mehr als nur einmal riesige, koboldartige, Frank nicht
unähnliche Gestalten gesehen, die im Schatten des Turms herumtorkelten oder
sich wie eine stumme Drohung mühsam über den Rasen schleppten. Ob diese
Erscheinungen schon immer in Amaurot heimisch waren, oder ob sie als eine Art
warnende Boten erst kürzlich zugezogen waren, wusste ich nicht. Welcher Lesart
man auch zuneigt, diese spezielle Engelsvision erschien mir günstig. Ich meine,
gegenüber einem Kobold stellt ein Engel eindeutig eine Verbesserung dar.
Symbolisch gesprochen, bedeutete diese Vision, dass der Turm (der mich,
Charles, und auch unsere gesamte Familie repräsentierte) weiter wachsen würde
und sich gegenüber den Anfechtungen der viehischen Welt (symbolisiert durch
Frank, wenn man so will) als überlegen erweisen würde.
    Ich tippte
mit dem Zeigefinger an einen imaginären Hut, sozusagen als Dank an meinen Vater
für das gute Omen, ging wesentlich optimistischer gestimmt zurück in mein
Zimmer und merkte erst, als ich mich auf ihm niederlassen wollte, dass der
Schreibtischstuhl nicht da war. »Holla!«, sagte ich zu der Decke, die mir in
meiner neuen, horizontalen Lage ins Blickfeld gerückt war.
    Ich
rappelte mich auf, durchsuchte das Zimmer und schaute hinaus auf den Gang.
Keine Spur von dem Stuhl. Das war ärgerlich. Der Stuhl war nicht teuer, nicht
mal ansehnlich; er war vom Dachboden in mein Zimmer gelangt, nachdem sein
Vorgänger dem Wurmfraß erlegen war. Sein Diebstahl offenbarte ein bis dahin
ungeahntes Maß an Dummheit auf Seiten des Übeltäters. Im Haus gab es
haufenweise schönere Dinge zum Stehlen. Dass er dieses wertlose Stück
ausgewählt hatte, gerade als ich mich darauf setzen wollte, war äußerst
unangenehm. In diesem Augenblick hörte ich sie hereinkommen. Kichernd gingen
sie die Treppe hinauf zu Bels Zimmer. Ich hatte nicht übel Lust, ihn hier und
jetzt zur Rede zu stellen. Tatsächlich hatte ich schon die Pantoffeln an und
war schon fast an der Tür, als ich vor meinem inneren Auge das schreckliche
Bild sah, wie ich sie mittendrin bei etwas überraschte. Meine Beine gaben
nach, das Zimmer bekam Schlagseite wie ein Schiff im Sturm. Mit weichen Knien
stolperte ich gegen den Kleiderschrank und taumelte wieder zurück, als das
Zimmer auf die andere Seite kippte. Ich legte mich aufs Bett und bedeckte meine
Augen. Das musste aufhören. Wir konnten so nicht weitermachen. Zum Beispiel
mein Magen: Er hielt das einfach nicht aus. Maßnahmen waren erforderlich,
entschiedene Maßnahmen.
     
    Drei
     
    DIE NÄCHSTEN ZWEI TAGE waren
ausgesprochen friedlich. Bel war die meiste Zeit außer Haus, immer in
Begleitung ihres »Projekts«; wenn sie im Haus waren, blieben sie meist auf
ihrem Zimmer und übten lesen. Am Tag danach begann der Ärger mit der Bank, und
von da an lief wirklich alles aus dem Ruder - obwohl der Morgen so wundervoll
begonnen hatte. Mrs P weckte mich kurz vor Mittag und hielt mir das Tablett mit
dem Telefon hin.
    »Ja?«,
sagte ich, nachdem ich sicher war, dass das nicht einer von Mrs Ps mörderischen
Tricks war.
    »Hallo«,
sagte eine unbekannte Stimme. »Charles?«
    Mit
klopfendem Herzen krabbelte ich aus dem Bett. Die Stimme klang schwül, rau,
gleichzeitig kultiviert und skandalös anzüglich. Wie aus tausend
Schwarzweißfilmen - das gefallene, in die Jahre gekommene Mädchen, das in einer
Bar um Feuer bittet, die reiche Erbin, die in einer schattigen Einfahrt neben
dem Detektiv im Auto sitzt, die bebende junge Witwe, die den verbitterten
Ex-Marine um Hilfe anfleht. Eine Schwarzweißstimme, die nur zu einem Menschen
gehören konnte.
    »Laura«,
sagte ich mit seltsam dankbarer Gelassenheit, mit der Gewissheit, dass eine
Sache beendet war und ein neue begann.
    »Ja«,
sagte sie. »Deine Schwester hat mich gestern Abend angerufen. Sie sagt, dass
du etwas mit mir besprechen willst...«
    Verdammt, Bel,
konnte sie mir denn nichts einfach machen? »Ja, stimmt«, sagte ich. Ein
Augenblick glückseliger Spannung verstrich.
    »Also,
worum geht's?«
    Tja, worum
ging's? Ich konnte ihr ja

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