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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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mit den Armen ihren Oberkörper. »Sie haben mich angerufen,
das war erst vor ein paar Tagen, an dem Tag, als wir bei den Hunderennen
waren, morgens. Ich hab also gedacht, ich hab den Job, ich war mir ganz sicher.
Mein großer Durchbruch, hab ich gedacht. Keine große Rolle oder so, aber ein
Anfang, endlich. Und auch noch Tschechow, Charles, das Stück kenne ich in- und
auswendig. Und heute ist dann der Brief gekommen...« Sie stockte und drehte
den Kopf zur Seite, aber ich konnte die zitternde Träne sehen, die auf ihrem
Augapfel schimmerte. »Sie waren ziemlich offen, das war mir eine echte Hilfe,
ehrlich...«
    »Und, was
haben sie geschrieben?«
    »Dass mein
Vortrag technisch zwar sehr gut gewesen sei, dass
sie aber den Bezug zu den sozialen Realitäten unserer Zeit vermisst hätten.«
Zitternd holte sie Luft. »Sie sagen, mir fehlt das nötige Verständnis für ...
für die Welt. Vielleicht glaubst du, dass das für eine Schauspielerin nicht so
wichtig ist, aber es ist wichtig, Charles. Sie wollen die Elemente des Stücks
hervorheben, die auch heute noch aktuell sind, und sie glauben, das ich das
nicht kann. Ich meine, sie haben ja Recht, es gibt nicht so viele Rollen für falsche
Prinzessinnen ...« Während der beiden letzten, bitteren Worte löste sich
die pralle Träne und lief schnell an ihrer Backe hinunter. Und ich saß da,
schaute sie an und wünschte, ich wäre nicht so unnütz und die wenigen uns
trennenden Zentimeter Diwan würden mir nicht vorkommen wie tausend Meilen,
sodass ich ihr vielleicht etwas Tröstendes hätte sagen können, anstatt
aufzustehen und die getrockneten Blumen auf dem Kaminsims zu inspizieren.
Anderer Leute Träume machten mich immer verlegen, besonders, wenn sie
unerfüllt blieben.
    Ein
Vorsprechen, das hatte MacGillycuddy also gemeint, und es erklärte auch, was
sie jeden Morgen in ihrem abgeschlossenen Zimmer gemacht hatte, als ich
geglaubt hatte, sie brächte Frank das Lesen bei. Es erklärte wahrscheinlich
auch Frank selbst; tatsächlich war wohl nichts realer als Frank, und mit
halben Sachen gab Bel sich nicht ab. Sie wollte so viel von der Welt, es gab so
viel, das sie ausdrücken wollte. Dafür würde sie sich, wenn nötig, von ihrem
eigenen Leben abwenden. Sie würde ihre eigene Vergangenheit in die Luft jagen,
würde mit einem Kriminellen ins Bett gehen, würde sich hinlegen und über Realismus nachdenken
...
    Und dann
dieser Tschechow, in den sie vernarrt war, seit sie in ihrer Schule eins seiner
Stücke aufgeführt hatten. Schon Wochen vorher war sie in ihrem silberfarbenen
Kimono mit den riesigen kirschroten Blumen wie ein Wandermönch durchs Haus gestreift
und hatte unablässig ihren Text vor sich hingemurmelt (mit dem Ergebnis, dass
sie am Abend der Aufführung einen totalen Blackout gehabt hatte). Noch heute,
wenn man den Fehler beging, sie zu fragen, was denn an Tschechow so großartig
gewesen sei, erging sie sich nicht nur in langen, flammenden Vorträgen
darüber, dass er die prägenden Stücke des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben
habe, sondern auch darüber, dass er als Arzt die Tuberkulose von tausenden von
Bauern behandelt, ein Theater gegründet, seine schreckliche Alkoholikerfamilie
unterstützt und seine Frau selbst dann noch geliebt habe, als sie schon eine
Affäre hatte, und dass er tatsächlich trotz allem fähig gewesen sei, die
Menschen zu lieben, sich ihre Geschichten anzuhören
und zu versuchen, aufrichtig zu ihnen zu sein...
    »Es ist
dieses Haus«, sagte sie mit der trägen, monotonen Stimme von Mutter, wenn sie
einen ihrer schlechten Tage hatte. »Es gibt mir das Gefühl, als ob ich jetzt
schon verbraucht wäre. Solange ich hier bleibe, werde ich nie woanders meinen
Platz finden...« Sie hob plötzlich den Kopf und schaute mich mit verstörtem,
gleichzeitig anklagendem wie flehendem Gesichtsausdruck an. »Begreifst du
nicht, Charles? Vielleicht ist es für uns beide besser, wenn wir keine Lösung
finden mit der Bank. Vielleicht können wir uns dann von diesem Haus befreien.«
    Ich
schaute sie stumm an. Von diesem Haus befreien? Meinte sie
das ernst? Begriff sie nicht, dass Amaurot etwas Besonderes war, dass das, was
wir hatten, etwas Besonderes war? Wusste sie nicht, dass außerhalb dieses
Hauses alles weniger war, kleiner, bedeutungsloser,
mittelmäßig? Aber sie meinte es ernst. Sie erwartete eine Antwort von mir und
nagelte mich mit ihrem komischen Blick an die Wand, als taxierte sie das
Innerste meines Wesens. Dann stapfte

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