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Murray, Paul

Murray, Paul

Titel: Murray, Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: An Evening of Long Goodbyes
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war. Und diese bildete jetzt unerbittlich
Metastasen.
    Eine
Stunde später, als Bel und Frank eintrafen, großer Aufruhr. Frank hielt sich
den Kiefer, den ein großer, purpurrroter Bluterguss zierte. Bel veranstaltete
einen Riesenwirbel und holte aus dem Bad Jod und Wattebäusche.
    »Was ist
passiert?«, fragte ich.
    »Ögh,
ögh«, brummte Frank. »Wickscher, diesche Dcheckschau.«
    »Es war
der Wichser«, übersetzte meine Schwester. »Erinnerst du dich nicht, neulich im
Pub?«
    Ob ich
mich erinnerte? Das weiße Knubbelgesicht des Wichsers hatte sich gleich in
mehrere meiner vielen Albträume der jüngsten Vergangenheit geätzt. Laut Bel waren
er und seine Kumpels Frank von der Arbeit nach Hause gefolgt und hatten ihm
später, als er auf dem Weg zu ihr war, aufgelauert. Hätte der Postbote seine
Runde nicht wesentlich später als üblich absolviert, dann hätte es noch
schlimmer ausgehen können. Aber auch so habe sie ihn in die Notaufnahme bringen
müssen, um ihm die Rippen bandagieren zu lassen.
    »Wickscher,
Dcheckschau«, machte Frank noch einmal seinen Standpunkt deutlich und versuchte
sich aus dem Stuhl zu erheben. »Poliech Fresche.«
    Bel drückte
ihn wieder nach unten. »Das kann warten. In deinem Zustand wirst du niemandem
die Fresse polieren.«
    Wie bei
einem gestrauchelten Pferd verdrehten sich Franks Augen und wurden weiß. Für
den beunruhigenden Bruchteil einer Sekunde - bis der Golem seine tödliche
Gelassenheit wiederfand und Frank sich setzte - hatte ich den Eindruck, als
schaute ich in einen Spiegel. Ich sah die gleiche bedrängte Menschlichkeit,
die, einer Todesfee gleich, auch in meinem Herz schrie. Und für den Bruchteil
dieser Sekunde fühlte ich mit der armen Bestie und fragte mich, ob wir nicht
besser alle Golems wären: gehorsam, blind, unempfindlich gegen Schmerz.
    Ich ließ
sie allein und ging ins Frühstückszimmer, wo die diversen Drohbriefe und
Benachrichtungen noch immer auf dem Tisch lagen. Ich setzte mich und las sie
mit masochistischem Vergnügen durch. Die tragenden Rollen spielten Zahlen:
Kontonummern, Zinssätze, ausstehende Geldbeträge, längst vergangene
Datumsangaben. Unter entsprechenden Titeln entsponnen diese Ziffern auf jeder
Seite ihre Geschichte. Wir wurden im Vorübergehen genannt, in der dritten
Person, abgespeist mit vergänglich klingenden Nebenrollen wie »Bewohner(in)«.
    Als ich
den letzten Brief gelesen und mit der Schriftseite nach unten auf den Tisch
gelegt hatte, befiel mich ein Gefühl äußerster Dislozierung - als geschehe das
alles Lichtjahre entfernt, in einem feindlichen Paralleluniversum. Unmittelbar
gefolgt von einer Art hoch verdichtetem Gespür für das Hier und
Jetzt, einer Art fantasmagorischen Bewusstseins für die mir
vertraute Umgebung: die schweren, einlullenden Vorhänge, die leise brabbelnden
Muster der Tapete, die Standuhr und die Teekiste, die unschuldig in ihren
dunklen Ecken ruhten wie schlafende Kinder, die schon bald zu Waisen würden.
Ich dachte an Amaurot und an all die anderen vornehmen Häuser, an deren
vornehme Herzen, deren Pulsschlag sich mühte, mit dem dünnen Blut der Moderne
Schritt zu halten; Häuser, die für einfachere Zeiten gebaut waren, als die
Männer noch Hüte trugen und die Frauen Handschuhe, als für Gäste noch das
Silber poliert wurde und in den Kaminen das Feuerholz prasselte...
    Durch die
Tür zur Halle sah ich Frank, der zusammenhangloses Zeug in den Telefonhörer
blubberte, wie ein Schimpansengeneral, der den nationalen Notstand ausruft. Bel
saß etwas abseits, das Kinn auf die Hände gestützt. Ich schaute sie an,
schaute dann wieder zu Frank, sah all jene, die vor ihm hier gewesen waren,
und bekam plötzlich eine dunkle Ahnung von der Verzweiflung, mit der Bel in
dieser Welt einen Platz für sich suchte.
    »Mutter
wird nächstes Wochenende entlassen«, sagte sie mit schwacher Stimme und wedelte
mit dem Brief vom Cedars.
    »Gerade
rechtzeitig zur Versteigerung«, sagte ich und setzte mich neben sie. »Passt ja
genau.«
    »Also
nichts mit der Bank?«
    »Na ja,
ein paar Sachen konnten wir schon klären. Allerdings wollen die ihr Geld,
knallhart.« Der Fernseher lief ohne Ton: Stumm jagten Raketen über zitternden
Wüstensand. »Der Typ in der Bank sagt, dass wir mit unserem Steuerberater reden
sollen, der könnte das Ganze vielleicht ein bisschen entwirren.«
    »Ich hab
schon versucht, ihn ausfindig zu machen. Der ist wie vom Erdboden verschluckt.
Und Vaters Akten sind das reine Chaos. Ein einziges Rätsel.

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