Murray, Paul
Ehren abtreten wollen, kann ich Sie nicht
aufhalten. Sie finden sicherlich mit Leichtigkeit anderswo eine Stellung. Schätze,
in St. Anthony's ist momentan was frei. Da ist letzte Woche ein Lehrer
erstochen worden.«
»Wie können Sie mir so was antun, Greg?«, sagt Howard
leise.
»Wie ich schon sagte, Howard, es liegt ganz bei Ihnen. Wir
hier in Seabrook kümmern uns umeinander. Halten Sie sich an die Regeln, hören
Sie auf Ihren Kapitän, dann finden wir für Sie immer einen Platz im Team. Aber
wenn Sie nicht an Ihrer Schule festhalten, weil mal ein Schuss danebengegangen
ist, warum sollte sie dann an Ihnen festhalten?«
Mit tauben Fingern wendet Howard noch einmal die dicht beschriebenen
Seiten mit ihren abstrusen Formulierungen um, bis zum letzten Blatt, auf dem
sein Name unter einer gepunkteten Linie für die Unterschrift steht; auch das
Datum ist bereits eingetragen. Er spürt die verstohlenen, gesenkten Blicke,
die ihn bedrängen wie Körper in einem überfüllten Aufzug.
In der angespannten Stille ertönt Pater Greens Stimme glockenhell
in fröhlichem Singsang: »Wird denn Gott von dem
Vorfall in Kenntnis gesetzt werden?«
Irritiertes Gemurmel. Der Pater stellt die Frage anders:
»Ich möchte lediglich wissen, aus protokollarischen Gründen, ob die
Vereinbarung von uns verlangt, auch am Tag des Jüngsten Gerichts, wenn Gott
uns nach unseren Sünden befragt, Schweigen zu bewahren?«
»Bei allem schuldigen Respekt, Pater -«, der Automator ist
sichtlich verärgert, »- das ist wohl nicht der geeignete Zeitpunkt.«
»Da haben Sie natürlich vollkommen recht«, pflichtet Pater
Green ihm bei. »Ich möchte meinen, uns bleibt noch reichlich Gelegenheit,
darüber nachzusinnen, wenn wir zum ewigen Fegefeuer verdammt sind.«
Der verschlagene Pater mit dem scharfen Blick dreht sich
aufgebracht zu ihm hin. »Warum geben Sie sich nur immer so mittelalterlich?«
»Weil das hier Sünde ist!« Die
knochige Hand des Paters knallt auf den Tisch, dass die Plastikkugelschreiber
und die Teetassen auf ihren Untertassen einen Satz machen und ein wütender
Blick sie nacheinander wieder zur Raison zu bringen versucht. »Es ist Sünde«, wiederholt er, »eine abscheuliche, ungeheuerliche
Sünde wider ein unschuldiges Kind! Mit unserem Geplapper vom Wohl der Mehrheit
können wir sie vielleicht vor uns verstecken. Aber nicht vor Gott dem Herrn!«
Den restlichen Schultag über, der unendlich weit entfernt
seinen Lauf nimmt, bewegt sich Howard in einem klammen, bösen Nebel. Als
Farley ihn fragt, ob er nach Feierabend noch einen trinken gehen will, kann
Howard ihm kaum in die Augen sehen. Minute für Minute bohrt sich das Geheimnis
tiefer in ihn hinein, nistet sich ein wie ein monströser Parasit.
Wenn in der Vergangenheit dergleichen
aufkam: Wie beiläufig die Worte gefallen sind, als erkläre ein
Vater seinem Kind den Wechsel der Jahreszeiten. Ist das die Welt, in der er
die ganze Zeit gelebt hat? Alte Geschichten kommen in ihm hoch - die
abirrenden Hände des einen Paters, die sadistischen Neigungen eines anderen,
verschlossen gehaltene Türen, Blicke, die zu lange im Umkleideraum verweilten.
Geschichten, genau; Geschichten, für mehr hat er sie nicht gehalten, müßiger
Tratsch, ausgedacht, um die Zeit totzuschlagen, wie alles in Seabrook. Denn wie
könnten diese Männer sonst immer noch hier herumlaufen? Mit Pfingsttauben als
Abzeichen an ihren Kragen? Bei einem solchen Maß an Heuchelei würde Gott, oder
wer auch immer, sich doch sicherlich genötigt fühlen, schleunigst in Aktion zu
treten! Jetzt ist es, als wäre eine Wandverkleidung zur Seite geglitten und
hätte Howard einen flüchtigen Blick auf den geheimen Mechanismus der Welt
gewährt, der Erwachsenenwelt, in der dergleichen - geöffnete Hotelzimmertüren,
in Colagläsern aufgelöste Pillen, entblößte Körper, und draußen geht das Leben
ahnungslos weiter - aufkommt und wieder niedergebügelt wird, von kleinen
Männerkadern in geschlossenen Räumen, von den Patern in ihrer Klausur, vom
Automator und seinem Juristenteam - wo ist da der große Unterschied? Eine
kleine Notlüge fürs Allgemeinwohl. So bleibt alles in der Spur.
Die letzte Stunde hat er frei; heute ist ihm nicht danach,
noch länger zu bleiben, also packt er seine Sachen und geht. Zu Hause zieht er
den Vertrag aus dem Umschlag und legt ihn auf den Tisch, ein Schimmern scheint
von ihm auszugehen, arktisch weiß.
Halleys Handy klingelt drei Mal, bevor sie rangeht. Es
trifft ihn wie ein Schlag, ihre
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