Murray, Paul
Stimme zu hören - außerhalb seines Kopfs, unabhängig
von seiner Erinnerung. Ihm wird klar, dass sie in seiner Vorstellung in einem
der Zeit entrückten Schwebezustand existiert hat; erst jetzt geht ihm auf,
dass sie in dem Augenblick vor seinem Anruf und in all den Augenblicken davor
während der vergangenen Wochen anderes getan, Tage um Tage verbracht hat, von
denen er nichts weiß, so wie es, bevor sie sich kennengelernt haben, Tausende
weiterer Tage gegeben hat, die für sie so real sind wie die Hand vor ihrem
Gesicht, von denen er hingegen nie die leiseste Ahnung haben wird, in denen er
nicht einmal als Idee vorgekommen ist.
»Howard?«
»Ja.« Er hat sich nicht zurechtgelegt, was er sagen will.
»Lange nichts mehr von dir gehört«, bringt er schließlich heraus. »Wie geht's
dir? Wie ist es dir so ergangen?«
»Mir geht's gut.«
»Wohnst du noch immer bei Cat? Klappt alles?«
»Es klappt gut.«
»Und mit der Arbeit, wie läuft's da so, ist alles ...?«
»Mit der Arbeit läuft's gut. Was willst du, Howard?«
»Ich wollte bloß hören, wie's dir geht.«
»Also, mir geht's gut«, sagt sie. Die nachfolgende Stille
hat etwas von der Endgültigkeit eines in Position gebrachten Fallbeils.
»Mir auch«, sagt Howard kläglich. »Obwohl, ich weiß nicht,
ob du davon gehört hast, wir hatten einige Probleme in der Schule, dieser
Junge, er war bei mir im Geschichtsunterricht ...«
»Ich hab's gehört.« Das Eis in ihrer Stimme schmilzt, wenn
auch nur um einen Hauch. »Es tut mir leid.«
»Danke.« Er spürt den Impuls, ihr alles zu erzählen, über
den Trainer, die Vorstandssitzung, die Verschwiegenheitsverpflichtung. Doch in
letzter Sekunde schreckt er zurück, aus Unsicherheit, ob er sich an diesem
Punkt etwas Gutes damit tut, ihr die verderbte Welt zu enthüllen, in der er
lebt. Stattdessen platzt er heraus: »Ich habe einen Fehler gemacht. Das wollte
ich dir sagen. Ich war ein Idiot. Ich habe furchtbaren Mist gebaut. Ich habe
dich verletzt. Es tut mir leid, Halley, es tut mir so leid.«
Ein einziges Wort, »Okay«, wie ein ödes Atoll in der
ozeanischen Stille.
»Ja, also, ich meine, was denkst du?«
»Was ich denke?«
»Kannst du mir verzeihen?« Laut ausgesprochen klingt die
Frage lächerlich daneben, als hätte er angefangen, ihr mit Zitaten aus Casablanca zu kommen. Doch Halley lacht nicht. »Was ist mit
deiner anderen?«, fragt sie gleichmütig, mit tonloser Stimme. »Hast du das mit
ihr abgesprochen?«
»Oh«, seine Hand vollführt eine verächtliche Geste, als
wäre die Vergangenheit ein Rauchgespinst, das sich mit einem Schlag zerstreuen
lässt. »Das ist vorbei. Das hatte nichts zu bedeuten. Es war eigentlich nie
etwas Richtiges.«
Sie gibt keine Antwort. Howard läuft wie ein gefangener
Tiger auf und ab. »Ich möchte es noch mal versuchen, Halley. Ich hab mir
überlegt - wir könnten von hier weggehen. Irgendwo anders ganz von vorn
anfangen. Vielleicht sogar in den Staaten, wir könnten heiraten und zurück in
die Staaten. Nach New York. Oder wohin du willst.«
Genau genommen ist ihm dieser Plan eben erst in den Sinn
gekommen - aber jetzt hört er sich absolut perfekt an! Ein neues,
verpflichtendes Leben, irgendwo weit weg von Seabrook! Auf einen Streich wären
all ihre Probleme gelöst!
Doch als sie antwortet, klingt ihre Stimme, obwohl wieder
ein gewisses Maß an Zuneigung darin mitschwingt, bedrückt und müde. »Wenn du
die Hand im Feuer hast, hm?«
»Was?«
Sie seufzt. »Du suchst immer nach Auswegen, Howard. Nach
Fluchtrouten aus deinem Leben. Deswegen habe ich dir gefallen, weil ich nicht
von hier bin und du dachtest, ich hätte dir etwas Neues zu bieten. Als ich
nicht mehr neu war, hast du mit dieser Frau geschlafen, wer auch immer das
gewesen ist. Und weil du mich jetzt nicht mehr hast, bin ich für dich wieder
ein Ausweg. Damit hast du ein Ziel, du machst dich auf die Suche, um mich
zurückzubekommen. Aber, verstehst du nicht, wenn du mich tatsächlich
zurückbekämst, wäre die Suche beendet, und du würdest dich wieder langweilen.«
»Würde ich nicht«, sagt er.
»Woher willst du das wissen?«
»Weil es anders sein wird, weil ich anders fühle.«
»Es kann nicht nur um Gefühle gehen. Wie soll ich mein Leben
auf einem Gefühl aufbauen?«
»Auf was denn sonst?«
»Es muss noch etwas geben«, sagt sie. Ihm fällt keine
Erwiderung ein, und während er noch nach Worten sucht, redet sie weiter. »Der
springende Punkt ist der, Howard: Das Leben ist keine Suche. Und es ist
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