Murray, Paul
Porträtaufnahmen der Dubliner Kameraden, als wäre er einfach
aus einem Buch ins andere gehopst, bereit zum Angriff auf die Schützengräben
der Türken am Chocolate Hill, so wie er es mit der Mannschaft von Port Quentin
im Stadion an der Lansdowne Road aufgenommen hat. Woher hätte er wissen sollen,
was ihm bevorstand? Katastrophale Niederlage, sinnlose Vernichtung, Tilgung aus
der Geschichte - nicht das Schicksal, das man für einen Absolventen von
Seabrook im Auge hat -
Da fällt ihm Juster wieder ein, der leere Platz im
Klassenzimmer, wie eine fehlende Kachel in einem Mosaik. Er nimmt sich die
Fotografie in dem Buch erneut vor. Bildet er es sich ein, oder besteht da eine
Familienähnlichkeit zwischen Molloy und seinem Urenkel? Über die Generationen
hinweg hat sich ein unsicherer, verschlossener Zug um den energischen Mund
eingeschlichen, wirken die blauen Augen verschleiert, als hätten die Gene sich
nie von dem Zerstörungswerk in der Suvlabucht und seinen Nachwehen erholt, als
wäre ein unendlich kleiner, aber lebenswichtiger Teil in den Zeitenwirren
verloren gegangen. Und doch kommt es ihm vor, als hätte er Daniel Juster, oder
vielmehr den Mann, zu dem er geworden wäre, da vor sich, als starrte er ihn aus dem Gesicht des Soldaten
an wie ein Spiegelbild in einer Glasscheibe. Howard starrt zurück und spürt,
wie ihm die Haare an Hals und Armen zu Berge stehen. Die Uniform baumelt an
ihrem Bügel; wie er da so allein bei Kerzenschein in seinem Wohnzimmer sitzt,
erfasst Howard ein seltsames Gefühl des Zusammenfließens, als sei er zum Endglied eines geheimnisvollen Kreislaufs bestimmt
worden.
Vielleicht hatte Slattery doch recht, denkt er. Vielleicht
brauchen die Jungen so etwas, um aufzuwachen; vielleicht ist das eine
Möglichkeit, Daniel zurück ins Klassenzimmer zu holen und sie zum Hinsehen zu
zwingen. Zwei Geister, für kurze Zeit vor dem Vergessen gerettet; ein kleiner
Schritt zur Besserung, eine Chance zur Wiedergutmachung.
Am folgenden Morgen ist er schon früh in der Schule, um
ungehindert fotokopieren zu können; gerade sortiert er im Lehrerzimmer Bilder
von Vorkriegs-Rugbymannschaften, da kommt der Automator herein und hält zügig
auf Tom zu, der im Lehnstuhl sitzt und den Sportteil der Irish Times liest. »Nur ganz kurz?«, sagt er.
Tom blickt fragend auf. »Klar, Greg, wollen Sie ...?« Er
deutet zur Tür.
»Ich denke mal, Sie werden nichts dagegen haben, wenn die
anderen es auch gleich erfahren«, erwidert der Automator und zieht aus seinem
Jackett einen Umschlag, auf dem das Emblem der Paracletes prangt. Er enthält
einen Brief von der Zentrale der Kongregation, aus Rom; der Automator liest
ihn vor und tut damit allen kund, dass Tom für einen Posten als Lehrer an der
Mary Immaculate School auf Mauritius ausgewählt worden ist. Tom lässt einen
Juchzer los; der Automator klopft ihm lachend auf die Schulter.
Howard braucht einen Augenblick, um zu begreifen, dass
das, was sich da vor seinen Augen abspielt, reines Theater ist, eine Inszenierung
für die Zuschauer. Wobei die Akteure erstaunlich überzeugend wirken - Tom mit
hochroten Wangen und verzücktem Blick, und der Automator, der ihm väterlich
den Arm um die Schulter legt; nichts Geheimnistuerisches oder Berechnendes
lässt sich aus ihren Mienen ablesen. Es ist, als stände ihre Lüge für sie
bereits anstelle der Wahrheit; und nun kristallisiert sich diese Lüge vor
seinen Augen heraus, meißelt sich in die Realität ein, mithilfe seiner
ahnungslosen Kollegen, die sich um Tom scharen und ihm fast die Hand ausreißen.
»Das heißt, also, Sie verlassen uns ...«
»Ja, es war eine schwere Entscheidung, aber ...«
»Hat dich vermutlich beinahe umgebracht. Mauritius. Nobel
geht die Welt zugrunde!«
»Da unten musst du dich nicht mehr mit diesem Scheiß rumschlagen.«
»Ricky« Ross, der Wirtschaftslehrer, deutet launig nach
draußen, wo typisch irisches Schmuddelwetter herrscht.
»Nein, aber dafür gibt es dort natürlich andere Probleme
...«
»Und was ist mit uns? Wie soll es in Seabrook ohne dich
weitergehen?«
»Was ist mit dem Ferry? Die werden dichtmachen müssen!«
»Wir haben ja gar nicht gewusst, dass Sie über einen
Wechsel nachdenken.« Miss Birchall und Miss McSorley sind einigermaßen platt.
»Sie haben nie ein Sterbenswort verlauten lassen, Sie böser Junge.«
»Stimmt, ja, es kam alles so ziemlich aus heiterem Himmel.
Greg hat mir erzählt, dass der Posten frei wird, und dann habe ich beschlossen
zuzugreifen.
Weitere Kostenlose Bücher