Murray,Paul
wenn er im
siebzehnten Jahrhundert darüber gestolpert wäre. Sie ist zweifellos
interessant, aber wir sollten uns von ihr nicht den Blick auf die weniger
spektakuläre, aber ebenso wichtige wissenschaftliche Arbeit verstellen lassen,
die es hier auf dem Planeten Erde zu tun gibt. Klingt das akzeptabel?«
»Ja«,
räumt Ruprecht ein.
Nein! Je
mehr Gegenargumente er hört, desto tiefer wird seine Bewunderung für diese
unergründliche, esoterische Lehre, die zu verstehen sich die rohe, gedankenlose
Welt nicht die Zeit nimmt - je länger er sich in seinem Kellerraum aufhält,
sich in Topologien verliert, imaginäre Ebenen entwirft, die sich unterhalb
ihrer hyperspatialen Penumbra wellenförmig bewegen, je länger er menschliche
Gesellschaft meidet - von anderen gesichtslosen Adepten in schlaflosen Internet-Chatrooms
abgesehen - und sich jene goldenen Schibboleths vorwärts und rückwärts
aufsagt: String, Multiversum, Supersymmetrie, Gravitino, die hundert Namen der
Theorie ...
Vielleicht
ist es am Ende ja Liebe. Wieso sollte man sich nicht in eine Theorie verlieben
können? Verlieben wir uns in einen Menschen oder in die Vorstellung von einem
Menschen? Ja, Ruprecht hat sich verliebt. Es war Liebe auf den ersten Blick,
sie ist aufgekeimt, als Professor Tamashi jenes erste Diagramm präsentiert
hat, und seitdem wächst sie exponentiell weiter. Fragen nach Grund oder Beweis
sind daher bei Ruprecht sinnlos. Wann hat Liebe je nach Gründen oder Beweisen
gefragt? Wieso sollte sich die Liebe der Realität beugen, wo sie sich doch ihre
eigene, so viel lebendigere Realität schafft, in der alles in der Tonart des
Herzens erklingt?
Es war
einmal ein schönes junges Mädchen, das hieß Loreley und lebte am Ufer des
Rheins. Sie verliebte sich in einen Matrosen. Als er in See stach, sagte er:
»Wenn ich zurückkomme, heirate ich dich«, und so stieg sie jeden Tag auf die
Felsen und hielt Ausschau nach seinem Schiff. Doch es kam nicht. Eines Tages
erhielt sie einen Brief von ihm; er habe ein anderes Mädchen geheiratet,
schrieb er. Da stürzte sie sich in den Fluss. Bis auf den heutigen Tag singt
sie dort auf einem Felsen ihr Lied und kämmt ihr Haar. Wer ihren Gesang hört,
kann ihm nicht entfliehen, sein Schiff läuft auf die Felsen auf, und sie zieht
ihn in die Tiefe. So groß ist ihre Schönheit, dass jeder, der sie sieht, den
Verstand verliert.
Konzentrier
dich, Daniel, konzentrier dich!, ruft der Trainer vom Beckenrand.
Sie sind
nach den Ferien die Ersten, die das Schwimmbad benutzen. Schmeißfliegen und
Heftpflaster sind von der Wasseroberfläche abgesammelt worden, und sie glänzt
wie Amethyst. Die anderen aus seiner Mannschaft durchpflügen die Bahnen links
und rechts von ihm, wie Maschinen, immer hin und her. Doch er selbst schafft es
nicht. Es ist, als hätte sich das Wasser gegen ihn verschworen, als würden ihn
die einzelnen Moleküle zurückstoßen. Als wäre da etwas, das ihn packen will.
Los, Dan,
reiß dich zusammen!
Er
schüttelt es ab, taucht wieder in den Bann des Chlors ein, stellt sich vor, am
Ende der Bahn würde ein Mädchen auf ihn warten, ihr Haar kämmen und leise ihr
betörendes Lied singen: If I had three wishes I would give away two ...
Als sie
aus der Dusche kommen, färbt der erste Schimmer der Morgendämmerung das
Acryldach rosa.
Also, wo
findet der Wettkampf statt?, fragt der Trainer.
In
Ballinasloe, antwortet Antony »Air Raid« Taylor.
Und wann?
Am
fünfzehnten November, sagt Siddharta Niland; glitzernde Bäche rinnen seinen
goldenen Körper hinab.
Alles
falsch, sagt der Trainer. Der Wettkampf findet in diesem Moment statt, und zwar
hier. Er klopft sich an den Kopf. In euren Köpfen, sagt er. Da drin wird ein
Wettkampf gewonnen oder verloren. Ihr könnt noch so stark oder fit sein - ohne
die richtige Einstellung nützt das nichts. Ich möchte, dass ihr von jetzt an
bis zum fünfzehnten November an nichts anderes mehr denkt als an den Wettkampf.
Schreibt es in eure Tagebücher, in eure Kalender, auf die Innenseite eurer
Augenlider. Alles andere ist Nebensache. Auch die Mädchen. Die sind auch noch
da, wenn der Wettkampf vorbei ist. Und bei denen habt ihr sehr viel bessere
Karten, wenn wir gewinnen.
Alle
lachen.
Ich hab's
schon mal gesagt, und ich sag's wieder: Nicht alle werden es schaffen. Wer es
letztes Mal geschafft hat, wird nicht automatisch wieder aufgestellt. Wer
letztes Mal nicht dabei war, geht vielleicht diesmal an den Start. Bis dahin
kann noch viel passieren.
Nach
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