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Murray,Paul

Murray,Paul

Titel: Murray,Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Skippy stirbt (Teil 2)
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Song zu
hören und dabei an jemand ganz anderen zu denken, diese identischen Gefühle in eine ganz andere Richtung zu
lenken, zu einem ganz anderen Menschen hin, der vielleicht seinerseits im
Dunkeln liegt und wieder an jemand anderen denkt, eine vierte Person, die an
eine fünfte denkt, und immer so weiter; und so haben wir statt eines Universums
voller reziproker Paare, in dem Liebe und erwiderte Liebe schön symmetrisch
wie Schmetterlingsflügelpaare durch den Raum flattern, Ketten der Sehnsucht,
wuchernd, gewunden und in einer unendlichen Zahl von Sackgassen endend.
    So wie die Form natürlicher Dinge wie Regenbögen,
Schneeflocken, Kristalle und blühende Blumen darin wurzelt, dass sich die
Quarks im Atom symmetrisch anordnen - ein Relikt des Zus tandes vollkommener
Symmetrie, in dem das Universum sich einmal befunden hat -, so können nach
Ruprechts Überzeugung auch die desolaten Verhältnisse in Liebesdingen bis auf
subatomare Ebene zurückverfolgt werden. Wer sich mit der Stringtheorie
befasst, erfährt, dass es zwei verschiedene Arten von Strings gibt,
geschlossene und offene. Die geschlossenen Strings sind O-förmige Schleifen,
die, unbekümmert um die Erfordernisse der Raumzeit, wie Engel umherschweben und in unserer Realität keine Rolle spielen. Es sind die offenen
Strings, die einsamen, unvollständigen Strings, deren Enden verzweifelt am
klebrigen Stoff des Universums haften; sie sind es, die zu den Bausteinen der
Realität werden, zu ihren Partikeln, ihren Energieaustauschern, den wuselnden
Urhebern all der Komplikationen. Unser Universum, könnte man fast sagen, ist aus Einsamkeit aufgebaut, und diese fundamentale Einsamkeit setzt sich nach oben
fort und sucht jeden seiner Bewohner heim. Doch könnte es in anderen Universen
anders sein? In einem Universum etwa, in dem es nur geschlossene Strings gäbe,
wie würde Liebe da aussehen? Und Energie? Und Raumzeit? Der Sirenengesang des
Fragezeichens: Ruprechts Gedanken schweifen ab, unentrinnbar, weg
von Skippy und seinem Dilemma, hin zu Größerem - wollüstig in geheimen
Dimensionen aufgerollten Universen, Sheets purer funkensprühender
Andersartigkeit, gekräuselten Topografien, die makellose, niemals auch nur
geträumte Formen bergen ...
    Ein Geräusch holt Ruprecht in die Wirklichkeit zurück,
ein kaum vernehmbares Pochen am Fenster - ein Nachtfalter tippt ein mattes Tattoo der
Sehnsucht nach dem Mond jenseits des Glases an die Scheibe. Noch eine
unerwiderte Liebe, denkt Ruprecht. Er schiebt das Fenster hoch, um ihn
hinauszulassen, dann geht er zu seinem Heft und schreibt mond, motte hinein. Mitten im zweiten Wort hält er inne und
verharrt eine ganze Weile reglos, wie gedrosselt, dann springt er wieder ans
Fenster und schaut hinaus, als könnte er dort draußen in der Dunkelheit den
schnellen Schlag winziger aufwärtsstrebender Flügel erkennen ...
     
     
    Einmal in der Woche oder auch öfter, wenn sein
Stundenplan es erlaubt, begibt sich Pater Green aus der stolzen Festung des Bürgertums
nach St. Patrick's Villas, um jenen Gemeindegliedern einen Besuch abzustatten,
die zu krank oder zu gebrechlich sind, um zur Messe zu kommen. Es sind kaum
anderthalb Kilometer dorthin, und doch ist es eine andere Welt, eine von
Verwahrlosung zerfressene und nach menschlichem Müll stinkende Welt. Er steigt
durch Treppenhäuser, in denen die Farbe von den Wänden abblättert, hinauf zu
graffitibemalten Türen, und selbst noch nachdem er seinen Namen genannt hat,
mustert ihn durch den Türspalt ein ängstliches Auge von Kopf bis Fuß, ehe die
letzte Kette gelöst wird. Es sind fast ausschließlich Frauen. Mrs. Doran, Mrs.
Coombes, Mrs. Gulaston - altersfleckig, die grauen Haare silberblau getönt,
vergessen und doch irgendwie noch da. Drinnen der Fernseher, respektvoll
stumm-, aber nicht ausgeschaltet, Blumentapeten und darauf verteilt vergilbte
Bilder von Padre Pio und Johannes Paul II., oval gerahmte Fotos von längst
verstorbenen Ehemännern, von Kindern und Kindeskindern, die in Ongar oder in
Spanien leben oder einfach keine Zeit haben für die untröstlichen Klagen des
Alters. Er setzt sich in die Küche, bekommt Tee serviert und zwingt sich
zuzuhören, wenn sie ihm von ihren Sorgen erzählen: dem kaputten Elektroofen,
den offenen Beinen, dem Niedergang des Viertels. Alles geht vor die Hunde,
Pater! Das ist der reinste Dschungel hier! Schlimmer! Diese Halbwüchsigen, die
klauen Autos und rasen damit durch die Straßen, die schmeißen Flaschen kaputt,
die

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