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Murray,Paul

Murray,Paul

Titel: Murray,Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Skippy stirbt (Teil 2)
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erwartet wie eine unter seinem Kopfkissen versteckte Goldmünze, und
wann immer er daran denkt, also alle paar Sekunden, breitet sich ein selten
dämliches Lächeln auf seinem Gesicht aus.
    »Du hast
sie noch mal geküsst, stimmt's?« Dennis findet Skippys untypische Hochstimmung
irritierend, wenn nicht sogar einigermaßen nervig.
    »Holla,
Skip -«, Geoff erstarrt vor Ehrfurcht, »- das heißt, sie ist deine Freundin.
Ach du Scheiße - du hast eine Freundin!«
    Und dann
läuft er nach dem Matheunterricht auf dem Weg zur Mittagspause Carl direkt in
die Arme.
    Aus
irgendeinem Grund hat Skippy ihn nach dem gestrigen Kampf total vergessen; er
hat sich keine Gedanken gemacht, was passieren würde, wenn sich ihre Pfade
unvermeidlicherweise wieder kreuzten. Doch als er merkt, dass die Jungen um
ihn herum mit einem Schlag stehen bleiben und die Luft im Flur plötzlich
elektrisch aufgeladen zu sein scheint, wird ihm klar, dass die anderen den
ganzen Vormittag auf diesen Moment gewartet haben. Er kann sich jetzt nur noch
für den Schlag rüsten - den Fausthieb aus dem Nichts, den hinterlistigen Tritt
gegen das Fußgelenk, das schnelle, spitze Knie in die Leistengegend -
    Doch Carl
scheint ihn nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen; er zieht weiter wie ein alter,
griesgrämiger Hai, der sich seinen Weg durch bunt schillernde Elritzenschwärme
bahnt, taub für das wiehernde Gelächter und die Pfiffe, die dem in die Ferne
entschwindenden Koloss gelten.
     
     
    In der
heutigen Geschichtsstunde will Howard Hasenherz - der so, wie er aussieht, in
letzter Zeit weder viel geschlafen noch sich groß gewaschen oder rasiert hat -
über Verrat sprechen.
»Darum ging es eigentlich in diesem Krieg. Um den Verrat der Reichen an den Armen,
der Starken an den Schwachen und vor allem der Alten an den Jungen. >Warum
wir hier erschlagen liegen, / Fragt ihr: Für unsrer Väter Lügen< - so hat
Rudyard Kipling es ausgedrückt. Den jungen Männern wurden alle möglichen
Geschichten aufgetischt, um sie zum Kämpfen zu bewegen. Natürlich nicht nur von
ihren Vätern. Auch von ihren Lehrern, der Regierung, der Presse. Alle logen
sie bezüglich der Gründe für den Krieg und der wahren Natur des Kriegs. Dient
eurem Vaterland. Dient dem König. Dient Irland. Tut es im Namen der Ehre, im
Namen des Mutes, für das kleine Belgien. Am anderen Ufer hörten die jungen
Deutschen das Gleiche. Als sie zur Front kamen, wurden sie erneut betrogen und
verraten, von unfähigen Generälen, die sie, Welle um Welle, ins Maschinengewehrfeuer
schickten, von den Zeitungen, die nicht die Wahrheit über den Krieg schrieben,
sondern am laufenden Band hohle Phrasen wie Tapfere-Tommies-Tod-oder-Ruhm
produzierten, sodass es nach einem einzigen großen Abenteuer klang und noch
mehr junge Männer dazu ermutigte, sich zu melden. Nach dem Krieg ging der
Verrat weiter. Die für die Soldaten angeblich vorgesehenen Posten gab es
nicht. Die Männer durften Helden sein und Medaillen tragen, aber für
Kriegsbeschädigte Ware< hatte niemand Verwendung. Graves' Freund Siegfried
Sassoon nannte den Krieg einen >üblen Streich, der mir und meiner Generation
gespielt worden ist< ...«
    »Der war
doch völlig neben der Mütze, findet ihr nicht auch?«, fragt Mario danach.
    »Wenn das
so weitergeht, kommt er eines Tages noch mit Uniformen für uns an und lässt
uns alle zur Somme marschieren«, sagt Dennis, holt sein Verzeichnis heraus und
stuft Howard auf der Anwärterliste für Nervenzusammenbrüche fünf Ränge höher
ein, womit er nun direkt hinter Bruder Jonas und Miss Timony liegt.
    »Verrat«,
murmelt Ruprecht nachdenklich vor sich hin und lässt seinen Blick auf Dennis
ruhen. »Was ist?«
    »Ach,
nichts«, sagt Ruprecht obenhin. »Das Wort klingt bloß so gut. Verrat. Verrat.«
    »He!, du
Arschgeige, was ist dein Problem?«
    »Verrat«,
sinniert Ruprecht. »Da klingelt's doch irgendwie, oder? Verrat.«
    »Fick
dich, Von Blowjob, versuch ja nicht, mir die Schuld dafür in die Schuhe zu
schieben, dass du deinen schwulen Kasten verloren hast.«
    »Kommt
schon, Leute«, redet Geoff ihnen zu. »In zwei Stunden geht das Casting los.«
    So ist es,
und um vier hat sich eine Art musikalischer Zoo vor der Tür zur Turnhalle
versammelt. Folk- und Rockgruppen, Chöre und Quartette, Stepptänzer und
Breakdancer. Hier trällert sich einer aus der Zehnten durch seine Tonleitern:
Tiernan Marsh, den sie bei sämtlichen offiziellen Anlässen aus der Versenkung
holen, damit alle seinen engelsgleichen Tenor

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