Murray,Paul
sehr, dass er sie fast zu verdrängen scheint; beim Einatmen wird ihnen klar,
dass er schon die ganze Zeit da gewesen ist, zu verdünnt, um ihn vorher
wahrzunehmen. Was immer es mit dieser geheimnisvollen Andersartigkeit auf sich
hat, das hier ist die Quelle, der Omphalos, der Nabel der antiken Welt.
»Ah, sieht
so aus, als wären wir in dem Verschlossenen Raum ...«, sagt Ruprecht
schließlich.
»Ja«, sagt
Mario.
Schweigen,
Schweigen und Dunkelheit. Die Toten wandeln ... die Zukunft wird zum Schoß ...
»Na dann«,
sagt Ruprecht mit gespielter Bravour, »bringen wir das Ding über die Bühne.« Er
stapft mit seinem Kasten tiefer in den schattigen Raum hinein; Mario hastet
hinterher, folgt dem Scheppern aus Ruprechts Tasche, versucht nicht an die
Legenden zu denken, von denen Nialls Schwester erzählt hat - und dann sieht er
ihn, den blauen Leichnam eines Mädchens, er hängt am Balken, baumelt direkt vor
ihm!
Zum Glück
ist er zu geschockt, um aufzuschreien. Und als er sich wieder gefasst hat, geht
ihm auf, dass es kein Mädchen ist, sondern nur eine Schulbluse, die da
schwerelos in der Luft schwebt.
Er duckt
sich drunter weg und hetzt weiter. Selbst im Dunkeln erscheint der Raum
beträchtlich größer als erwartet. Als ihre Augen sich umgestellt haben, machen
sie noch etliche weitere unerwartete Entdeckungen. Er ist zum Beispiel
keineswegs leer.
»Zeig mir
noch mal die Karte«, sagt Ruprecht. Er hält sie sich dicht vors Gesicht und
studiert sie sorgsam. »Hmm.«
Keine
Frage, sie sind am richtigen Ort. Und doch, statt Spinnweben und geborstener
Dielen sehen sie Wäscheständer, Waschmaschinen und Großpackungen von
Waschmitteln. »Eher eine Waschküche als ein Klassenzimmer«, sinniert Ruprecht.
Vielleicht eine seit Langem nicht mehr benutzte Waschküche? Aber die
Trainingsjacken mit dem Emblem von St. Brigid's, die Röcke und Pullover, manche
feucht, manche trocken, in Körben getürmt oder an kreuz und quer gespannten
Wäscheleinen aufgereiht, nichts davon sieht besonders alt aus -
Er nimmt
sich erneut die Karte vor. »Du hörst auch keine Musik, oder?«, fragt er Mario.
»So was wie übernatürliche Musik?«
Mario gibt
keine Antwort. Mit einem weiteren Hmm, gewissermaßen einem Laut gewordenen Stirnrunzeln, kämpft
sich Ruprecht durch das dichte Laubwerk aus nassem Stoff voran. Kein Anhaltspunkt
für eine dräuende Anderswelt will sich zeigen; ganz am Ende des Raumes entdeckt
er lediglich noch drei riesige Säcke, bis zum Rand mit den Unaussprechlichen
der Mädchen gefüllt, die der Wäsche harren. Damit ist die Sache für Ruprecht
gestorben -
»Hier drin
gibt es keinen Grabhügel!«, ruft er. »Bloß haufenweise
Schulmädchenunterwäsche!«
Ein
Geräusch von draußen. Es kommt jemand! Diese Stimmen sind unzweifelhaft
modern, springlebendig, ein bisschen burschikos, man kann sich vorstellen, wie
sie sich lautstark über die Vibrationen des maschinellen Waschprozesses hinweg
verständigen -
»Nichts
wie raus hier!«, sagt Ruprecht. »Schnell, durchs Fenster!«
Er macht
kurzen Prozess mit dem Riegel, wuchtet das Unterteil des Schiebefensters hoch
und will sich schon durchwinden, als er merkt, dass niemand hinter ihm steht.
»Mario?«
Der
Kameramann und Navigator von Team Kondor steht wie angewurzelt da, Mund
sperrangelweit offen, glasiger Blick.
»Mario!«,
schreit Ruprecht ihn an. »Was ist denn mit dir! Mario!«
Die
Stimmen draußen verstummen abrupt. Doch Mario zeigt immer noch keine Reaktion.
Nach und nach macht sich ein Honigkuchenpferdgrinsen auf seinem Gesicht breit,
als wäre er auf die Hintertür zum Gelobten Land gestoßen; dann reißt er sich
mit einem vollkommen unverständlichen Laut, irgendwas wie nöööd oder möööp, von Ruprecht los und stürzt sich
Hals über Kopf in den Haufen Mädchenslips -
Skippy ist
wieder in seinem Zimmer. Die anderen sind noch nicht von ihrem Unternehmen
zurück; er schlüpft hinein, ohne mit jemandem zu reden. Er weiß, was er jetzt
tun muss, er will keine Zeit mehr verschwenden. Er schließt die Tür und
schaltet alle Lichter aus, bis auf seine Schreibtischlampe. Er nimmt sich ein
leeres Blatt Papier von dem Stapel in Ruprechts Drucker und setzt sich hin.
Die
Schwimmbrille glotzt ihn von der Tür her an. Der Schwimmpokal schimmert, kleine
Bruchstücke der Erinnerung. Die Fahrt durch Thurles in dem klapprigen alten
Bus. Der Tag ist wie ein Gummiband, dehnt und dehnt sich bis zum Beginn des
Wettkampfs, bis alle Zeit mit einem Schlag abreißt.
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