Murray,Paul
so was denn aus den Fingern saugen?«
»Warum
tut irgendjemand irgendwas in diesem Kackloch? Weil er was Besseres sein will
als wir. Glaub mir, der ist genauso wenig ein Genie wie ich. Und wenn du mich
fragst: Dass er Waise ist, das hat er sich auch bloß ausgedacht.«
An
diesem Punkt wird es Dennis' Zuhörern endgültig zu bunt. Sicher, es stimmt,
dass Ruprecht seine Exeltern weitgehend im Ungefähren lässt, abgesehen von
einer gelegentlichen Bemerkung über die Reiterkünste seines Vaters, für die er
»rheinauf, rheinab berühmt« gewesen sei, oder einer flüchtigen Erwähnung seiner
Mutter, »einer zarten Frau mit ästhetischen Händen«. Und es stimmt auch, dass
einerseits Ruprecht jetzt behauptet, sie seien Botaniker gewesen und bei einer
Kajakfahrt den Amazonas hinauf auf der Suche nach einer seltenen Heilpflanze
ums Leben gekommen, andererseits aber Martin Fennessy berichtet, Ruprecht habe
ihm kurz nach seiner Ankunft erzählt, sie seien Profikajakfahrer gewesen und
bei der Teilnahme an einem Kajakrennen rund um die Welt ertrunken. Aber niemand
glaubt, dass er oder sonst irgendjemand, vielleicht mit Ausnahme von Dennis
selbst, das schlechte Karma mit etwas derart Gefährlichem herausfordern würde wie
Lügen über den Tod der eigenen Eltern zu verbreiten.
Das
soll nicht heißen, dass Ruprecht einem nicht auf den Geist geht oder nicht Gift
für den eigenen Coolnessfaktor ist. Es hat eindeutig seine Nachteile, sich mit
Ruprecht in der Öffentlichkeit zu zeigen. Aber Fazit ist und bleibt, dass
Skippy ihn aus unerfindlichen Gründen tatsächlich mag; und nun liegen die Dinge so,
dass man, wenn man mit Skippy befreundet ist, Ruprecht in Kauf nehmen muss wie
einen zweihundert Pfund schweren Trostpreis.
Und
inzwischen haben ihn auch einige andere ins Herz geschlossen. Vielleicht hat
Dennis recht und er redet nonstop Blödsinn - trotzdem ist es eine Abwechslung
nach allem anderen, was sie dieser Tage zu hören bekommen. Man verbringt ja
einen großen Teil seiner Kindheit vor dem Fernseher und denkt, dass man alles,
was man da sieht, eines Tages selbst erleben wird: ein Formel-1-Rennen
gewinnen, Trainhopping machen, einer Terroristengruppe das Handwerk legen, zu
jemandem »Geben Sie mir die Waffe« sagen usw. Dann kommt man in die höhere
Schule, und plötzlich fragen einen alle nach beruflichen
Plänen und langfristigen Zielen, und mit Zielen meinen sie nicht die, die man dereinst
im FA-Cup zu erreichen hofft. Nach und nach dämmert einem die schreckliche
Wahrheit - dass die Zukunft nicht die Achterbahnfahrt sein wird, die man sich
vorgestellt hat, dass die Welt der Eltern, die Welt, in der man abwaschen, zum
Zahnarzt gehen und am Wochenende im Baumarkt Bodenfliesen kaufen muss, weitgehend
das ist, was die Leute meinen, wenn sie »Leben« sagen. Jeden Tag scheint sich
jetzt eine weitere Tür zu schließen, die etwa, auf der profistuntman oder kämpf gegen
bösen roboter steht, bis dann im Lauf der Wochen auch die Türen mit Aufschriften wie von einer schlange gebissen werden, die welt vor einem asteroiden
retten oder in letzter sekunde eine bombe entschärfen eine nach der anderen zufallen
und man das Geräusch allmählich sogar mag und anfängt, einige Türen selbst zu
schließen, auch solche, die ruhig offen bleiben könnten ...
Am
Beginn dieses Prozesses - wenn man mit dieser brutalen Ernüchterung
konfrontiert wird, die zum Erwachsenwerden dazuzugehören scheint, mehr noch
als verrücktspielende Drüsen und die Entdeckung der Mädchen - ist es seltsam
tröstlich, sich Ruprechts durchgeknallte Theorien anzuhören.
»Stellt
euch das mal vor«, sagt er und schaut aus dem Fenster, während ihr anderen euch
um den Nintendo drängt, »dass alles, was ist, alles, was je gewesen
ist - jedes
Sandkorn, jeder Wassertropfen, jeder Stern, jeder Planet, ja sogar Raum und
Zeit selbst -, in einen einzigen dimensionslosen Punkt gestopft ist, für den
keine Regeln oder Gesetze gelten und der nur darauf wartet, hinauszufliegen
und sich in die Zukunft zu verwandeln. So gesehen ist der Urknall ein bisschen
wie die Schule, oder?«
»Was?«
»Ruprecht,
was faselst du denn da?«
»Na
ja, ich will damit sagen, eines Tages gehen wir alle hier weg und werden
Wissenschaftler und Bankangestellte und Tauchlehrer und Hotelchefs - die
Substanz der Gesellschaft, sozusagen. Aber bis dahin wird diese Substanz, will
sagen, wir, die Zukunft, in diesen winzigkleinen Punkt gestopft, wo keins der
Gesetze der Gesellschaft Gültigkeit hat. Also
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