Murray,Paul
dreißig arme
Seelen, die nach dem Klingeln hierher müssen. Irgendwelche
Harry-Potter-Fantasien werden schnell erstickt: Das Leben in dem Turm, einem
uralten Gemäuer, das hauptsächlich aus Zugluft besteht, hat überhaupt nichts
Magisches an sich, ist man doch auf Gedeih und Verderb verrückten Lehrern,
Schikanen von älteren Mitschülern, Fußpilzepidemien usw. ausgeliefert. Es gibt
aber auch Tröstliches. An einem Punkt in ihrem Leben, an dem ihre wundervollen,
fürsorglichen Elternhäuser zu unerträglichen Guantánamos geworden sind und
jeder Tag, den sie von ihren Gleichaltrigen getrennt verbringen müssen, im
besten Fall als eine geisttötende Werbesendung für Dinge wahrgenommen wird, die
keiner haben will, und im schlimmsten als eine Folter, nicht unähnlich einer
veritablen Kreuzigung, genießen die Internatsschüler ein gewisses Ansehen bei
ihren Kameraden. Sie strahlen eine Art Freiheitsglanz aus; sie können sich
eine Aura des Geheimnisvollen zulegen, ohne befürchten zu müssen, dass ihre
Mums oder Dads auftauchen und die Show platzen lassen, indem sie lustige
Geschichten von »Missgeschicken« erzählen, die ihre Kinder hatten, als sie noch
klein waren, oder sie coram publico ermahnen, doch bitte nicht wie ein
Perverser mit den Händen in den Hosentaschen herumzulaufen.
Aber
das Beste am Internatsleben ist unbestritten, dass man, trotz des fieberhaften
Bäumepflanzens der Patres, vom Turm aus in den Hof von St. Brigid's schauen
kann, der Mädchenschule nebenan. Jeden Morgen, Mittag und Abend hallt die Luft
wider von glockenhellen Mädchenstimmen, und abends, bevor sie die Vorhänge
zuziehen, kann man, ohne auch nur durchs Fernrohr schauen zu müssen - und das
ist gut, denn Ruprecht ist sehr eigen darin, wofür sein Fernrohr benutzt wird,
und hält es stets auf die mädchenfreien Bereiche des Firmaments gerichtet -,
seine weiblichen Pendants in den oberen Fenstern herumgehen, reden, sich das
Haar bürsten oder, will man Mario glauben, sogar nackt Aerobics machen sehen.
Näher kommt man allerdings nie an sie heran, denn obwohl es ständiger
Gegenstand von Plänen und aufschneiderischen Berichten ist, hat es noch keiner
erwiesenermaßen geschafft, die Mauer zwischen den beiden Schulen zu überwinden.
Und es ist auch noch nie einer am Hausmeister von St. Brigid's und seinem
berüchtigten Hund Nipper vorbeigekommen, ganz zu schweigen von der
furchterregenden Geisternonne, die angeblich nächtens über das Schulgelände
wandelt und, je nachdem, mit wem man redet, entweder ein Kruzifix oder eine
Zickzackschere schwingt.
Ruprecht
Van Doren, der Besitzer des Fernrohrs und Skippys Zimmergenosse, ist nicht wie
die anderen Jungen. Er ist im Januar nach Seabrook gekommen, wie ein
verspätetes und nicht mehr umtauschbares Weihnachtsgeschenk, nachdem seine
Eltern bei einer Kajakexpedition den Amazonas hinauf ums Leben gekommen waren.
Vor ihrem Tod war er zu Hause von Privatlehrern unterrichtet worden, die auf
Geheiß seines Vaters, Baron Maximilian Van Doren, aus Oxford eingeflogen
wurden, und daher hat er eine ganz andere Einstellung zu Bildung und Ausbildung
als seine Kameraden. Für Ruprecht ist die Welt ein Kompendium faszinierender
Fakten, die nur darauf warten, entdeckt zu werden, und jedes knifflige
mathematische Problem wie das Eintauchen in ein schönes warmes Wannenbad. Wer
sich auch nur flüchtig im Zimmer umschaut, bekommt eine Vorstellung von seinen
derzeitigen Projekten und Interessen. An den Wänden hängen Karten jeder Art -
Karten vom Mond, vom nahen und fernen Sternhimmel, eine Weltkarte, auf der
kleine Stecknadeln die Schauplätze jüngerer Ufo-Sichtungen markieren -, aber
auch ein Bild von Einstein und Ergebniszettel von herausragenden Siegen im
Kniffeln. Das Fernrohr, mit einem Schild, auf dem in schwarzen Buchstaben NICHT
BERÜHREN steht,
zeigt aus dem Fenster. Am Fußende des Bettes glänzt wichtigtuerisch ein
Waldhorn. Auf dem Schreibtisch, hinter einem Stapel unverständlicher
Ausdrucke, ist sein Computer mit geheimnisvollen Operationen beschäftigt, deren
Sinn und Zweck nur seinem Besitzer bekannt sind. So eindrucksvoll das alles
bereits ist, verkörpert es doch nur einen Bruchteil von Ruprechts Aktivitäten,
die sich zum größten Teil in seinem »Labor« abspielen, einer der muffigen
Kammern im Kellergeschoss. Hier unten, umgeben von weiteren Computern und
Computerteilen, Stapeln unergründlicher Papiere und elektronischer Geräte,
konstruiert Ruprecht Gleichungen, führt Experimente
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