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Muschelseide

Muschelseide

Titel: Muschelseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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zu zittern, stürzte zu Boden, schlug wild um sich: ein epileptischer Anfall, wie mir später gesagt wurde. Während man sie in ihr Zimmer trug, stand ich ganz ruhig da, spürte nur dieses Klopfen im Unterleib. Gaetano war tot, daran bestand kein Zweifel. Doch ich konnte mir unter seinem Tod nichts vorstellen. Aus dem Zimmer meiner Mutter kam pausenloses Weinen und Schreien; dazwischen ertönte die Stimme meines Vaters. Was er sagte, verstand ich nicht. Was konnte er ihr sagen? Türen wurden geöffnet und wieder geschlossen. Ich roch alle Gerüche mit nie gekannter Deutlichkeit, den Geruch nach Medikamenten, nach Kampfer, nach schwitzender Haut und kalter Asche; den Geruch meines eigenen Erbrochenen, den Geruch der Toilette. Es waren die Gerüche des Schmerzes, der Angst und des Todes, es gab keine anderen mehr. Die Dienstboten bewegten sich leise. Das Haus war voller behutsamer Schritte, voll aufgescheuchter Worte; es war eine kranke Unruhe, die sich von Treppe zu Treppe nach oben verlagerte. Irgendwann riss ich das Fenster auf, atmete gierig Luft ein, schrie meinen Schmerz heraus. Paola zog mich vom Fenster weg, streifte mir die Schuhe von den Füßen, machte das Fenster fest zu. Nein, man sollte mein Weinen nicht hören, Vater wollte es nicht. Paola öffnete mein Kleid, hob die Schüssel an meine Lippen, als ich mich erbrach. Gaetano war tot, ach, was für ein Schmerz! Saburo hatte nichts für ihn tun können. Wie sollte er auch? Er war ja auf einem anderen Schiff, einem Schiff, das irgendwo in der Sonne brodelte, auf einem Meer voller Leichen und Trümmer. Ich hatte nicht gewusst, dass ich ihn dermaßen liebte, Gaetano. Ich liebte ihn, so schien es, für die Ewigkeit, und ich würde ihn stets in Saburo suchen und ihn vielleicht auch finden. Es war mein einziger Trost. Jetzt wartete ich nur noch auf ihn, auf Saburo. Kam er nicht zu mir, würde ich sterben, wie auch Gaetano gestorben war.
    Dann, am nächsten Morgen, ein zweites Telegramm. Ich höre noch den fassungslosen Aufschrei meines Vaters, als er es öffnete: Der Zerstörer Sakaki hatte über dreitausend britische Marinesoldaten von der Transylvania lebend, wenn auch verletzt, geborgen. Das japanische Schiff hatte die deutsche Blockade durchbrochen und Kurs auf die italienische Hafenstadt Savona genommen. Mein Vater griff sich an den Kopf, stammelte unentwegt die gleichen Worte: »Gott hat uns geholfen, Gott hat Gaetano gerettet!« Ich aber dachte kühl und vernünftig, nein, es ist nicht Gott, der Gaetano gerettet hat, das ist nur so eine Redensart. Indessen, Mutter hielt die Belastung, gefangen zu sein in äußerstem Schmerz, dann in äußerster Freude, nicht aus. Sie fiel erneut in Ohnmacht. Ich nahm sie in die Arme, drückte mein glühendes Gesicht an ihre Brust; das heftige Schluchzen, das mich schüttelte, war ein Schluchzen der Freude. Mein ganzer Körper war von Adern durchzogen, von pulsierendem Blut erfüllt, von pulsierendem Leben. Saburo hatte Wort gehalten, Saburo hatte Gaetano gerettet. Doch was war geschehen? Alle Nachrichten drangen nur spärlich durch, nur so spärlich. Wir lebten in großer Ungewissheit, aber mit Hoffnung im Herzen. Tage vergingen; meine Mutter erholte sich, mein Vater war stark abgemagert, sein Gesicht zuckte nervös. Ich hielt mich viel in meinem Zimmer auf, ich fühlte mich elend. Warum nur? Warum? Nie zuvor war ich krank gewesen. Vielleicht hätte ich merken sollen, dass Paola mich beobachtete, mit scharfem, unruhigem Blick? Ich begriff auch, dass sie sprechen wollte, und sich nicht dazu entschließen konnte. Doch ihre Lippen blieben fest zusammengepresst. Was wusste Paola, das sie mir nicht sagte? Manchmal wollte ich sie schlagen, sie beschimpfen, weil sie so hartnäckig schwieg. Dann wieder hatte ich das Gefühl, dass ich ohne Paola nicht leben konnte. Paola, die mich wusch und kämmte, meinen Nachttopf leerte, mir täglich frische Wäsche brachte. Paola, die unentwegt auf etwas zu warten schien. Worauf wartete Paola? Sie sagte es mir nicht. Ich sah mich im Spiegel, sah, wie mein Gesicht sich veränderte, mein Körper sich veränderte. Gaetano lebte, hieß es. Dreitausend waren gerettet worden. Gaetano war gewiss unter ihnen! Doch kein Telegramm kam von ihm, keine Nachricht, nichts. Ich ging wie blind umher, tat immer dasselbe, schlug einen Roman auf, las ein paar Seiten und verstand kein Wort, legte das Buch wieder weg, kämpfte gegen Schluckauf und Brechreiz. Gab es in Italien denn keine Telefonleitungen? Keine

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