Muschelseide
Blick sich verändert hatte; sie betrachtete mich von Frau zu Frau, als sei sie eine Gleichgestellte. Und ich empfand dabei ein seltsames, nahezu körperliches Gefühl von Nähe, Zuneigung und gemeinsamer Verschwörung. Sie ließ mich wissen, dass sich in mir etwas vollzog, etwas, das uns zu Schwestern machte. Und auch, dass sie als Frau zu mir hielt. Ich schluckte und sagte:
»Es kann sein. Ja ... vielleicht.«
Sie nickte.
»Sie bluten nicht mehr. Ich habe es schon lange bemerkt.«
Sie fragte nicht: Wer ist es? Das wäre eine Anmaßung gewesen. Doch sie trat ganz nahe zu mir und flüsterte eindringlich:
»Wenn Sie Hilfe brauchen, ich kenne eine Frau. Aber es muss schnell geschehen. Später wird es gefährlich.«
Ich holte tief Luft. Ich fühlte mich plötzlich wie befreit. Doch unwillkürlich presste ich beide Hände auf meinen Leib.
»Danke, Paola. Aber ich glaube nicht, dass es notwendig ist.«
Sie gab keine Antwort. Was dachte sie? Doch es spielte keine Rolle. So wie der Gläubige sich an die Säule des Tempels anlehnt, um Kraft aus ihr zu empfangen, so lehnte ich mich an Paola im Bewusstsein, dass ich nicht völlig allein war, dass ich eine Verbündete hatte, mit der ich mein Geheimnis, meine Verzweiflung, teilen konnte.
Und dann kam die Nacht, die dunkler war als alle anderen. Die Kirchenglocken schlugen vier. Ich lag schlaflos, verschwitzt und hörte, wie die Droschke sich näherte. Dann ertönte heftiges, wiederholtes Klopfen an der Tür. Noch jetzt, viele Monate danach, entsinne ich mich jenes Klopfens, das einem unheilverkündenden Trommeln glich. Noch jetzt fühle ich den Widerhall in meinem Herzen. Es war der schrecklichste Klang, den ich jemals gehört hatte, düster wie der Klang der Totenglocke, wie der Klang der Sturmglocke bei einer Feuersbrunst. Und auf einmal war überall Licht, in den Zimmern, im Hinterhof, im Treppenhaus. Der Concierge war schon an der Tür, mit einem Schlafrock bekleidet. Ich schlüpfte in Pantoffeln, zog hastig meinen Morgenmantel über, lief die zwei Stockwerke hinab. Von unten her ertönte ein Hin und Her von Schritten, erstickten Stimmen und dann – ganz plötzlich – der Aufschrei meiner Mutter. Ich lief die letzten Stufen hinab, sah die Schatten an Wänden zu riesiger Größe emporwachsen. Unten standen zwei Männer in Uniform, mit müden, verhärmten Zügen, die unter ihrer Last taumelten. Gaetano war in Decken gehüllt, sein Gesicht war leichenblass, die Augen geschlossen. Die Männer waren ungeschickt, stapften mühsam die Treppen hinauf, stießen mal hier, mal da an, blieben auf dem Absatz des ersten Stockwerkes keuchend stehen. Mein Vater stammelte sinnlose Worte, meine Mutter gab Anweisungen. Nein, noch eine Etage höher, in sein Schlafzimmer. Die Männer taten, was ihnen gesagt wurde. Ich presste mich an die Wand, um ihnen den Weg frei zu lassen. Gaetano sah mich wohl an, als sie ihn an mir vorbei trugen, aber seine Augen waren leer, leer wie die Nacht. Ich fragte mich mit dumpfer Verwunderung, warum er so klein aussah, so mager, warum er nicht gehen konnte. Und dann sah ich, dass unterhalb seines Leibes nichts mehr war, nur die Decken. Er hatte keine Beine mehr.
29. Kapitel
I ch weiß nicht mehr genau, was dann geschah. Ich bin wohl die Treppe wieder hinaufgelaufen. Ich weiß, dass ich irgendwo gegen die Wand fiel, dass ich schluchzte, leise, ganz leise. Ich hatte bereits gelernt, geräuschlos zu weinen. Nach einer Weile rutschte ich an der Wand entlang, saß auf den Steinfliesen, während die Dienstboten treppauf und treppab rannten und die Soldaten, die Gaetano gebracht hatten, das Haus wieder verließen. Draußen auf der Straße fiel eine Wagentür zu. Das Pferd setzte sich in Bewegung, das Geräusch der Hufe entfernte sich. Dann Schritte, dicht bei mir, ein Gefühl von Wärme, ein hastiger Atem. Paola kauerte nieder, hielt mir eine Schale mit warmer Milch an die Lippen, goss mir die Milch in den Mund, bis ich sie auf meinen Morgenmantel verschüttete. Dann stellte sie die Schale auf den Boden, griff mir unter die Arme und hob mich hoch.
»Dr. Fonseca kommt gleich«, flüsterte sie. »Lord Sforza hat ihn rufen lassen.«
Dr. Fonseca kam tatsächlich sehr schnell. Ich weinte jetzt nicht mehr. Wozu hätte es genutzt, dass ich weinte? Ich lehnte oben an der Treppe, sah Dr. Fonseca mit seiner Tasche in der Hand die Stufen hinaufeilen. Dieser Arzt würde fortan mehrere Male am Tag kommen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Jetzt war er zum ersten Mal hier.
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