Muschelseide
geschöpft. Die Frau, die ich nun sah, trug eine Art schwarzen Umhang und hielt einen Fächer in der Hand, den sie mit leichter, müheloser Drehung bewegte. Ich stand in der Tür, hielt den Atem an. Nach einigen Sekunden schloss die Frau ganz ruhig ihren Fächer und erhob sich. Sie legte einen Finger auf den Mund, deutete ein Lächeln an. Ich bemerkte, dass sie unter ihrem Umhang eine weiße Spitzenbluse trug. Dann steckte sie den Fächer in ihren Gürtel, bevor sie langsam verschwand. Sie löste sich einfach in der Luft auf. Ich dachte, das kann doch nicht wahr sein, ich träume mit offenen Augen. Behutsam trat ich an das Bett, wo meine Mutter gerade die Augen aufschlug. Sie lächelte mich an und sagte:
»Ach, Beata! Wie nett von dir, dass du mir Luft zugefächert hast. Es tat gut bei dieser Hitze!«
Gesunder Verstand ist die Fähigkeit, die Realität zu erkennen. Was war das für eine Realität, der ich soeben begegnet war? War auch Cecilias Welt real, waren unsere beiden Welten wirklich? Ihr Bild mit dem weißen Gesicht, den großen schwarzen Augen, schlängelte sich durch meine Erinnerung wie ein unfassbar geheimnisvolles Motiv in einer Symphonie und hatte Umrisse gezeigt, als hätte eine hochbegabte Hand sie mit großer Intensität in die Luft gemalt. Cecilia war unbestreitbar da gewesen – und doch, wo war sie jetzt? Wo, um Himmels willen, wo? Es gehörte zu meinem wirklichen Leben, dass ich Ursache und Wirkung verstehen wollte. Von Cecilia wusste ich nur, dass es mir kaum gelingen würde, ihr Bild aus meinem aufgewühlten Innern zu verbannen. Immerhin hatte ich es fertig gebracht, dass der Spuk für mich allmählich an Bedeutung verlor. Vergessen konnte ich ihn ja nicht, und dass ich ihn nicht verstand, war tragisch. Und jetzt sagte Francesca Dinge, die mich verstörten. Möglicherweise war sie auch nicht mehr ganz richtig im Kopf.
»Nein«, antwortete ich ziemlich heftig. »So empfinde ich es eigentlich nicht. Aber wenn du es ernst meinst ..,«
»Cecilia meint es verdammt ernst, das kannst du mir glauben.«
Ich hielt es für angebracht, ihr nicht zu widersprechen. Nehmen wir einstweilen den Schal, dachte ich. Und machen wir uns darauf gefasst, dass sie ihn vielleicht schon morgen von mir zurückfordern wird. Außerdem will ich Zeit haben, das Gewebe mal gründlich zu prüfen.
»Dann also .., ich danke dir!«, seufzte ich. »Ich habe Freude an dem Schal.«
Sie erwiderte mein Lächeln, bevor es zu einer Grimasse wurde. Sie bückte sich, zog aus einem Korb voller alter Spielsachen eine Spieldose hervor. Der hölzerne Deckel zeigte ein artiges Muster von Schäfer und tanzenden Rokoko-Damen. Francesca drehte an dem Schlüssel. Der winzige Kupferzylinder drehte sich; eine dünne, zierliche Melodie erklang. Mozart. Die Arie des Cherubino: »Voi che sapete«. Francesca lächelte unentwegt vor sich hin, doch ihr Blick war starr. Sie summte mit geschlossenen Lippen, bewegte ihre Hand im Takt. Als die Melodie verklang, warf Francesca die Spieldose in den Korb zurück und nickte mir zu. Sie sah plötzlich hohlwangig und blass aus, wie kaum von dieser Welt.
»Ich .., ich muss mich hinlegen«, sagte sie tonlos. »Ich bin müde.«
6. Kapitel
M uschelseide. Ich stand vor dem Spiegel, legte den Schal um meine Schultern, besah mich, wie Frauen es tun, von vorn und im Profil. Meine Haut war gebräunt, die Haare schimmerten von Natur aus rötlich. Mir fiel auf, wie die Farbe der Muschelseide sich anpasste. Es war eine Art Wechselglanz, der meine Haut golden und das Tuch fast kastanienbraun schillern ließ. Ich hob den Stoff an die Nasenlöcher. Den Geruch des Meeres verwahrte ich stets im Gedächtnis. Und jetzt roch ich ihn in diesem Schal, den ganz leichten Duft der Algen, zumindest glaubte ich ihn zu riechen. Mit großer Genauigkeit besah ich mir die fein gesponnene Struktur. Wie viele Arbeitsvorgänge waren wohl nötig gewesen, um dieses Wunderwerk zu weben?
Besonders der große Seestern erregte meine Aufmerksamkeit. Ich besaß einen angeborenen Sinn für Harmonie. Alle Muster waren vollkommen. Nur der Seestern hatte etwas an sich, das mich störte. Ich konnte zunächst nicht sagen, was es war. Ich breitete den Schal auf dem Tisch aus und entdeckte nach einer Weile die Ursache der Anomalie. Die ausgewogene Verteilung der Muster ließ ahnen, dass der ursprüngliche Schal doppelt so lang gewesen war. Der Seestern war in der Mitte durchgeschnitten. Jemand – Francesca vermutlich – hatte das Tuch halbiert. Wie
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