Muschelseide
Museums!«
»Nun«, lächelte ich, »vielleicht landet er eines Tages bei Ihnen. Aber leider ist der Schal nicht vollständig. Meine Großtante hat ihn zerschnitten.«
Der Konservator machte ein entsetztes Gesicht.
»Was? Zerschnitten?«
Wir stellten uns vor das Fenster, im Gegenlicht, und betrachteten die Stelle.
»Sauber abgeschnitten!«, stöhnte Dr. Hosta. »Ich kann es nicht glauben!«
»Francesca trug den Schal wirklich oft.«
Dr. Hosta klopfte vor Empörung mit dem Stock auf den Marmorboden, dass es im Saal widerhallte.
»Gott, was für ein Gefühl, eine solche Rarität zu tragen!
Warum hat sie das Tuch durchgeschnitten? Warum nur?« »Sie ist klein, und ich denke, dass er ihr zu lang war.« Das war zu viel für den alten Herrn.
»Wie oft habe ich schon erlebt, dass Erben ein Kunstwerk nicht zu würdigen wissen. Es ist ein Jammer, wahrhaftig! Ich werde noch verrückt dabei! Und wo ist der fehlende Teil?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht. Aber ich werde der Sache nachgehen.«
Ich bedankte mich bei Dr. Hosta, der sich immer noch nicht beruhigt hatte, und versprach, ihn auf dem Laufenden zu halten. Nachdenklich ging ich nach Hause und schickte Annabel eine E-Mail.
»Schon was von Muschelseide gehört?«
Eine halbe Stunde später traf die Antwort ein. Annabel kannte mich gut und wusste, dass ich sie nicht umsonst aufscheuchen würde.
»Melanie ist schon im Internet. Druckt mir alles aus, was sie findet. Mich stört, wenn Interessantes herumliegt und jeder Zugang hat. Ich komme gern früh.«
Annabel Kossack war Vizepräsidentin in der Abteilung Forschung und Entwicklung bei Azur. Daneben gehörte sie zu den attraktivsten Frauen, die ich je gesehen hatte. Früher, als sie Topmodel war, hatten ihre überlangen Beine, ihre Silberhaare und ihre hellen Mandelaugen Aufsehen erregt. Das war vorbei. Aber nach wie vor war sie eine nordische Schönheit, die ihre hüftlange Mähne zu einer Frisur aufsteckte, die sie noch imposanter machte. Sie inszenierte bewusst ihre kühle Eleganz; es machte ihr nichts aus, die Zielscheibe aller Blicke zu sein, während hinter ihrer glatten Stirn ein ganzes Netzwerk von Informationen vorbeizog. Annabel war Oxfordabsolventin und für ihren Geschäftssinn berüchtigt.
Statt eine ihrer beiden Sekretärinnen anzurufen, wählte ich ihre Direktnummer und erzählte, was ich erfahren hatte. Kein Mensch, den ich kannte, war so offen für Neues wie Annabel.
»Muschelseide?«
Sie sprach das Wort bedachtsam aus. Sie sprach schnell, wenngleich ihre Stimme ein wenig schleppend klang. Es war, als ob sie die Sätze sang. »Klingt aufregend. Sag mal, wie fühlt sich der Schal an?«
»Ein wärmender Hauch. Wie Pashmina, aber viel leichter.«
Azur stellte nicht nur Kosmetik her, sondern zeigte zweimal im Jahr eine kleine, sehr exklusive Accessoires-Kollektion, »Azur Confidential«, die nur in ausgewählten Boutiquen erhältlich war: in New York, in Tokio, in Paris und seit kurzem auch in Shanghai.
»Allmächtiger!«, rief Annabel. »Pashmina trägt heutzutage die Nachbarin um die Ecke, das ist ja das Problem. Wir suchen verzweifelt einen Ersatz. Der Import von Shatoosh-Wolle ist ja verboten. Zum Glück, sollte ich sagen. Die Antilopen wurden von chinesischen Wilddieben fast ausgerottet. Deine Muschelseide, kannst du mehr darüber erfahren? Auch, ob schon andere Leute ihre Ohren spitzen?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Tu mir den Gefallen, geh der Sache nach.«
»Schön, aber so einfach ist das nicht. Ich brauche einige Tage.«
»Ich werde meine Ungeduld zügeln.«
Wir unterhielten uns noch ein paar Minuten, erzählten uns Privates, aber nicht lange. Annabel war zwischen zwei Terminen und wie üblich in Eile. Nach dem Ende des Gesprächs saß ich eine Weile sinnend vor dem Telefon. Draußen heulte der Wind. Valletta war so gebaut worden, dass alle Straßen zum Hafen führten. Der Wind brachte im Sommer angenehme Kühle, im Winter jedoch eisige Luftwirbel. Wie schnell hatte ich mich in dieser Stadt wieder eingelebt – ebenso schnell, wie ich mich von ihr distanziert hatte! Wir Malteser verfügen über einen aufgeschlossenen Geist, wobei uns die Religion leider Hindernisse in den Weg legt. Als Kind hatte ich ehrlich und inbrünstig geglaubt, als Heranwachsende waren mir Zweifel gekommen und heute war die Religion kein Thema mehr für mich. Der kindliche Glauben ist ein sicheres Haus für die Seele, das wir erst dann verlassen, wenn wir dazu bereit sind. Über diese
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