Muschelseide
dumm, dachte ich, ein solches Kunstwerk zu beschädigen! Gewiss, der Schal war auch jetzt noch lang genug, man konnte ihn mehrmals um den Hals schlingen. Außerdem war die Schnittstelle mit einem sehr feinen, blond glänzenden Garn und winzigen Stichen äußerst akkurat vernäht. Aber die Perfektionistin in mir war verärgert.
Ich zeigte den Schal meinem Vater. Er besah ihn sich sehr genau.
»Woher hast du ihn?«
»Von Francesca. Sie trug ihn zu ihrem roten Pullover. Entsinnst du dich?«
Er schüttelte den Kopf. Der Schal war ihm nicht aufgefallen.
»Francesca sagt, dass er ihrer Mutter gehörte.«
Ricardo hob gleichmütig den Blick.
»Ja, von Cecilia gibt es noch einige Sachen. Was ist das für ein Material?«
»Muschelseide.«
»So? Die ist ja heute kaum noch zu finden.«
»Ich möchte mehr darüber wissen.«
»Warum informierst du dich nicht im Kunstmuseum?«
Fiel ihm nichts Aktuelleres ein? Aber er lebte nun mal in der Welt von vorgestern.
»Nein danke, da gehe ich lieber ins Internet.«
»Wie du meinst.«
Ich setzte mich vor den Computer. Tatsächlich fand ich im Internet eine Anzahl Hinweise, widersprüchlich allerdings und mit zumeist fragwürdigen esoterischen Spekulationen belastet. Immerhin erfuhr ich interessante Einzelheiten. Muschelseide gewann man aus der Pinna nobilis , eine Muschelart, die an verschiedenen Orten des Mittelmeeres – also auch bei uns – vorkam. Diese Muschel, die bis zu einem Meter hoch werden konnte, produzierte Haftfäden, mit denen sie sich im schlammigen oder sandigen Untergrund festklammerte. Sie erzeugte auch Perlen, doch von geringem Wert. Ich erfuhr, dass Muschelseide für die Herstellung von Textilien schon in der Antike bekannt und im Mittelalter noch ziemlich verbreitet gewesen war. Aus der »Lana penna« wurden in Taranto und Cagliari Luxusstoffe hergestellt. Eine Fabrik, die mit der Verarbeitung der Muschelseide auf industrieller Ebene experimentierte, war bereits 1 801 geschlossen worden. Aber bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gab es in Süditalien noch Ateliers, wo die Seide der Steckmuschel nach alten Verfahren gewebt wurde. Das bestätigte Francescas Geschichte, nämlich dass Gaetano seiner Schwester das kostbare Tuch aus Sardinien mitgebracht hatte. Ich erfuhr auch, dass auf Malta die Muschelseide für die Herstellung von Handtaschen, Mützen und Schals verwendet worden war. Die Arbeiterinnen benutzten hierfür den Häkelstich.
Danach stöberte ich in unserer reichhaltigen Bibliothek, fand aber nichts, das mich weitergebracht hätte. Ich sah ein, dass ich mir wohl den Gang ins Museum nicht würde ersparen können, und machte mich auf den Weg zum Admiralty House, das früher ein Hotel gewesen und heute ein Museum war. Mein Vater rief den Konservator an, der mich persönlich empfing. Dr. Panfilo Hosta, ein liebenswürdiger alter Herr, trug einen eleganten Anzug mit extravaganter Krawatte. Er hielt sich kerzengerade, obwohl er am Stock ging. Er führte mich zu den Schaukästen im Untergeschoss und zeigte mir Altardecken und Kirchengewänder, mit Stickereien oder Bordüren aus den Barthaaren der Steckmuschel verziert. Die Ornamente ließen an gold- oder bronzefarbenen Flaum denken. Bei jedem Gegenstand, den ich sah, nahm mein Interesse zu.
»Warum starb dieses Handwerk aus?«, fragte ich.
Der alte Herr hob die Hand mit fatalistischer Gebärde. »Warum sterben Traditionen?«
»Weil sie nicht mehr zeitgemäß sind«, antwortete ich.
Er nickte und seufzte gleichzeitig dabei, als bereite es ihm persönlichen Kummer.
»So ist es. Das Ausgangsmaterial – die Steckmuschel eben – fiel der zunehmenden Umweltverschmutzung zum Opfer. Man sah für diesen Industriezweig keine Entwicklungschancen mehr. Aber Erzeugnisse aus Muschelseide waren ja schon immer eine Rarität und wurden nur für berühmte Persönlichkeiten und besondere Anlässe angefertigt. Sie galten als Prestigeobjekte, als absoluter Luxus.«
Ich zeigte ihm Cecilias Schal, wobei der alte Herr keine Sekunde an seiner Echtheit zweifelte und in wehmütige Bewunderungsrufe ausbrach. Ich erfuhr, dass es für die Verarbeitung von Muschelseide zwei Verfahren gab: Bei der sogenannten »Pelztechnik« wurden die Büschel schichtweise nebeneinander genäht. Cecilias Schal entstammte der weniger verbreiteten und weitaus komplizierteren »Fadentechnik«.
»Sie besitzen da ein einzigartiges Stück«, sagte Dr. Hosta. »Ein solcher Schal, das versichere ich Ihnen, wäre der Stolz eines jeden
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