Muschelseide
Dinge hatte ich eines Tages mit Fabio gesprochen. Fabio hatte dazu nur gelächelt.
»Ma, cara mia, wir haben alle ein Verlangen nach himmlischer Vollkommenheit. Das steckt in jedem Menschen. Und wenn eine Vorstellung versagt – müssen wir eben ohne sie auskommen. Mit vierzehn war ich ein Kirchendieb, hast du das gewusst? Ich klaute Kreuze und Messbecher und Spitzendecken aus lauter Wut darüber, dass mich die Priester mit falschen Vorstellungen gefüttert hatten. Später bin ich nachsichtiger geworden.«
Unvermittelt packte mich die Sehnsucht nach ihm. Fast ohne nachzudenken wählte ich Fabios Handynummer. Es vergingen nur einige Sekunden, bis ich über das Summen der Leitung hinweg seine warme, herzliche Stimme vernahm.
»Ciao, Bella. Wie geht es dir?«
»Danke, gut. Wie geht es Cosima?«
»Sie macht Fortschritte. Das sagt jedenfalls Monica, die sie besser beobachtet als ich. «
Wir hatten uns vor vier Jahren während eines Kongresses in Neapel kennengelernt. Wir hatten lange geredet, von unseren Familien, unserem Beruf, unseren Reisen. Wir unterhielten uns, das weiß ich noch, schnell und halblaut, um einander alles mitzuteilen, was wir uns sagen wollten. Fabio war seit dreizehn Jahren mit Monica verheiratet, einer Kinderärztin. Nach sechs Jahren ungewollter Kinderlosigkeit hatte Monica eine Tochter zur Welt gebracht. Es wurde eine schwere Geburt. Und dass mit dem Kind etwas nicht stimmte, merkte die Mutter sofort: Die kleinen Füße hingen herab und drehten sich nach innen. In dem Alter, da kleine Kinder laufen lernen, konnte Cosima nur kriechen und sich aufrichten, wenn sie sich festhielt. Monica teilte ihre Praxis mit einer Freundin, arbeitete nur halbtags, setzte ihr ganzes Können bei der Kleinen ein. Kurbäder, Massagen, Übungen zur Kräftigung der Bein- und Fußmuskulatur. Cosima konnte inzwischen an einer Krücke gehen. Das kleine Mädchen war lebhaft und ausdauernd, zeigte scharfe Intelligenz, konnte mit fünf bereits lesen. Aber sie wusste schon jetzt, dass sie anders war, und ihre Traurigkeit steckte an, legte sich wie ein feiner Schleier auf die Familie. Und nun hatte Fabio mich getroffen, » die Frau seines Lebens«, wie er sagte. Aber davon, dass er sich scheiden lassen und mich heiraten würde, war nie die Rede gewesen. Doch wir meinten, dass wir zusammengehörten, uns nicht verlieren wollten, auch wenn wir uns längere Zeit nicht sahen. Während ich jetzt mit ihm sprach, erwachte die Kraft des Erinnerns, die Umrisse wurden klar: das dunkelblonde Haar, die Augenbrauen, die Farbe der Iris, unverwechselbar, dieses schwärzliche Grün. Das lockere Lachen, die sanfte Stimme. Im Gegensatz zu vielen Italienern sprach Fabio nie laut. Den weichen Klang musste er sich der Kleinen wegen angewöhnt haben.
»Jetzt bist du also wieder in Valletta«, sagte er. »Wie gefällt es dir in deinem Palazzo?«
»Ich könnte täglich Staub wischen, eine stundenlange Beschäftigung. Und du ahnst nicht, was alles in den Schränken steckt!«
»Wir sind froh, dass wir in einem Neubau wohnen«, sagte Fabio. »Alles ist ausgeklügelt, eine richtige Wohltat! Alte Häuser sind tückisch. Sie ziehen uns in ein Gravitationsfeld, das spleenig machen kann. Für Cosima wäre es nicht das richtige Umfeld.«
Fabio dachte immer an die Kleine und war vollkommen ehrlich dabei. Er stand zu seinen Gefühlen, er spielte kein Theater. Seitdem ich Fabio kannte, war ich weder glücklich noch unglücklich. Unsere Wege hatten sich gekreuzt, ein Knoten war geschlungen worden, aber das Muster lief weiter. Ich hatte eine große Kraft, zu lieben; gelegentlich dachte ich, dass ich diese Kraft nicht einzig auf Fabio hätte richten sollen. Vielleicht musste eine andere Liebe kommen, eine, die stärker war. Sich wirklich zu zweit fühlen, jemanden nahe haben, jemandem nahe sein; fast war es, als ob ich mich daran gewöhnte, in Abschnitten zu leben, ohne die Gewissheit des Herzens, ohne Sicherheit. Manchmal ging mir der Trost verloren.
Ich erzählte von Francesca und dass sie wieder in Malta war.
»Sie hat fast ihr ganzes Leben in New York verbracht. Sie ist Malerin. Eine berühmte sogar. Sie hat mir Kataloge gezeigt. Ihr Stil ist grell und überdimensional.«
»Man kann sein Super-Ego zum Kunstwerk machen.«
»Sie hat sich offenbar mit vielem auseinandergesetzt. Warum
ich dich eigentlich anrufe: Ist dir Muschelseide ein Begriff?« »Muschelseide? Was soll das sein?«
Ich zählte von Francescas Schal und beschrieb ihm das Material.
»Du
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