Muschelseide
meine. Vielleicht hatte das Malen eine erlösende Dynamik, die ihr Frieden schenkte. Sie trug noch viel Kraft in sich.
Nachträglich hatte sie entschieden, den ganzen Kindertrakt auszuräumen und als Atelier zu nutzen. Zwei Tage lang stöberten wir in Schubladen, leerten Schränke, sortierten alte Sachen und schleppten Möbel. Domenica half uns, das Gerümpel aus den Zimmern zu tragen. Schließlich kam ein Trödler und holte das Zeug. Mein Vater mischte sich nicht ein. Nur das Schaukelpferd wollte er als sentimentale Erinnerung behalten. Domenica bat um die Bettbezüge, Leinentücher und Tischdecken. Die Sachen waren alt und muffig, aber wenn sie gewaschen und gebügelt waren, konnten sie nicht nur brauchbar, sondern ausgesprochen wertvoll sein. Domenica stopfte sie in Papiersäcke und trug sie fort. Als die Zimmer leer waren, bekamen die Wände einen frischen Anstrich. Domenica putzte alle Fenster und schrubbte den Boden, bis das nackte Parkett wie schöner Honig glänzte. Francescas Persönlichkeit hatte bereits die Räume in Besitz genommen. Auf dem alten Bett, das sie nicht fortgeben wollte, lag jetzt eine Decke aus Satin, orange und rosa, die das Licht aus dem Gartenschacht auffing. Und bald war im Atelier alles vorhanden, was Francesca zum Zeichnen, zum Malen und sonst noch brauchte. Sie arbeitete an ihren Skizzen, stehend an einem großen Tisch, den Domenica und ich aus dem zweiten Stockwerk nach oben geschleppt hatten. Die Staffelei stand unter dem Dachfenster. Ricardo beklagte sich darüber, dass, sobald Francesca zu den Mahlzeiten kam, das Esszimmer nach Ölfarben roch. Francesca lachte schadenfroh dazu. Es bereitete ihr Vergnügen, Unordnung in Ricardos langweiliges Dasein zu bringen.
»Immerhin habe ich mir die Hände gewaschen.«
Am Anfang tolerierte sie gelegentlich, dass ich ihr bei der Arbeit zusah. Ich saß in einem Korbstuhl aus ihrer Kinderzeit und durfte erst sprechen, wenn sie mich dazu aufforderte. Das Signal erkannte ich bald: Sie hob eine Flasche Mineralwasser an den Mund und trank in langen Zügen, wie eine Bäuerin auf dem Feld. Dann wischte sie mit dem Handrücken über die nassen Lippen, nickte mir zu und schien zu fragen:
»Nun? Wie gefällt dir das? «
Die Malkunst war für mich etwas Fremdes. Und doch auch wieder nicht. Als Forscherin hatte ich einen geschulten Blick. Es waren klare, vollkommene Bilder, die mir die Natur vorlegte. Stimmte die Harmonie nicht, fühlte ich eine Art körperliches Unbehagen. Eines Morgens erklärte ich ihr ziemlich ausführlich, warum mir ihre Art, mit Formen und Farben zu experimentieren, gefiel. Sie hörte zu, nahm von Zeit zu Zeit einen Schluck. Schließlich sagte sie:
» Die New Yorker Kunstszene ist eine kleine Welt, und am Anfang habe ich die Kritiker verunsichert. Man hat mich oft für roh, genau genommen für brutal in der Aussage gehalten. Ich war stets versucht, ins Extreme zu fallen und die Lösung im Radikalen zu suchen. Sanftheit, auch in der Malerei, kam mir immer wie ein Ausdruck von Schwäche vor. Ich lebte in offener Fehde mit dem, was sich schickte, und gehörte nirgends richtig hin. Aber es war nutzlos, mich rückwärts zu wenden, unsinnig, das Leben nicht wahrhaben zu wollen, das mich trug. Das sah ich schließlich ein. Und mein Pinsel ließ es nicht zu, dass ich Hässliches malte.«
Merkwürdig, dachte ich, wie ähnlich wir uns sind. Es gab in uns keine wortlose Hingabe an das Schicksal, sondern eine Leidenschaft, die erschreckend lebensstark war. Wir hüteten uns dabei sehr, Gefühl und Denken zu verwechseln. Wir waren ein derbes, zähes Kraut von Menschenart, sogar in unseren Träumen auf praktische Vorteile bedacht. Ich zögerte lange, bevor ich ihr von Fabio erzählte. Denn Fabio war für mich ein Verlust und kein Gewinn. Sie hätte es nicht gutgeheißen, dass ich einem Mann nachweinte, der mich nicht brauchte. Und weil mir ihr Spott unerträglich gewesen wäre, erzählte ich von Fabio, indem ich von der Muschelseide sprach.
»Ich habe meine Chefin in Hamburg angerufen. Sie meint, dass es der Mühe wert sei, mehr über Muschelseide zu erfahren. Also habe ich zunächst den Computer eingeschaltet ...«
Francesca maß mich mit einem aufmerksamen Blick.
»Und was weiß der Computer?«
»Eben nicht viel«, seufzte ich.
»Höchst bedauerlich!« Francescas rote Lippen kräuselten sich spöttisch. »Dabei ist Wissen für dich alles, all dein Leben ist ja nichts als Wissen.«
Sie verstand sich wohl aufs Höhnen. Ich lächelte
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