Muschelseide
sie gegangen war, befühlte ich die Kanne, ob sie noch warm war.
»Noch etwas Tee?«, fragte ich Ricardo.
Ich füllte seine Tasse. Ich führte jede Geste behutsam aus, weil gute Manieren aus mir keine geschickte Frau gemacht hatten. Als er sich mit Keksen und Orangenmarmelade bedient hatte, sagte ich, wie beiläufig:
»Hast du gewusst, dass Cecilia ein Tagebuch schrieb?« Er sah mich entgeistert an.
»Nein, das höre ich zum ersten Mal! Wer hat es dir gesagt? Francesca?«, fragte er nachdenklich.
»Ja, aber sie hat es mir nicht zeigen wollen.«
Er sagte im nachdenklichen Tonfall: »Wenn sie das Tagebuch hat, muss sie wissen, wer ihr Vater war.«
Ich trank einen Schluck Tee und zählte bis fünf. Dann sagte ich:
»Ricardo, ich bin kein kleines Kind mehr. Außerdem haben sich die Zeiten geändert. Heute redet man leichter über solche Dinge als früher«, setzte ich beherzt hinzu, während er schwieg und meine Gedanken bis zur letzten Konsequenz vorschnellten. »Hast du ... ähm ... nie daran gedacht, dass Francesca Gaetanos Tochter sein könnte?«
Ricardos Antwort war von entwaffnender Offenheit.
»Ich habe Francesca sogar darauf angesprochen. Und weißt
du was? Sie hat nur gesagt: ›Nun, es hätte ja sein können.‹« Ich starrte ihn an und dachte, das kann doch nicht wahr sein. »War sie nicht beleidigt?«
»Nicht die Spur.«
»Warum hast du nicht versucht, mehr zu erfahren? Wenn sie schon mal in guter Stimmung war ...«
»Nein, ich wollte ihr nicht zu nahe treten.«
»Immerhin, du stellst gewagte Vermutungen an. Das bin ich gar nicht von dir gewöhnt.«
Er errötete ein wenig.
»Vielleicht taugen sie zu nichts. Und ich rede auch nicht darüber wie über etwas X-Beliebiges. Aber so abseits der Dinge des Lebens, wie du es mir weismachen willst, stehe ich nun doch nicht.«
»Ich bin beeindruckt, Ricardo. «
Er fuhr sich mit der Hand durch das spärliche Haar, wie er es immer tat, wenn er verlegen war.
» Du musst dich in die damalige Zeit versetzen, Beata. Soziale Verflechtungen bestimmten unser Leben. Wir waren bestrebt, den Besitz in sichere Hände zu übergeben, und holten uns keine Leute ungleichen Standes ins Haus. Irrationale politische Reaktionen oder eine Infragestellung der Kirche wurden aufs Schärfste verurteilt. Die natürliche Neigung junger Mädchen, sich zu verlieben, erzeugte Verdruss. Was ich damit sagen will: Cecilia hatte gewiss ein langweiliges Leben. Gaetano konnte sich immerhin die Hörner abstoßen, das wurde akzeptiert.«
Was Ricardo sagte, war mir sattsam bekannt und führte auch nicht weiter. Ich wurde ungeduldig, als er mich mit den abschließenden Worten abermals in Erstaunen setzte:
»Ich für meinen Teil denke nach wie vor, dass zwischen den Geschwistern etwas war. Francesca würde es natürlich nicht zugeben. Schließlich ist es eine peinliche Angelegenheit. Aber wir können uns nicht eine Welt aufbauen, die alles ungeschehen macht. Francesca setzt ihre Gefühle in Bilder um, die – wenn du meine Meinung hören willst – recht beunruhigend sind. Und am Ende zeigen sie die Wahrheit.«
Am Abend erschien Francesca nicht bei Tisch. Domenica meldete, dass sie müde sei und ein leichtes Mahl in ihrem Zimmer einnehmen würde. Ich fühlte, was in ihr vorging. Sie war stolz und hatte guten Grund, meiner robusten Neugier auszuweichen. Sie hatte etwas zu hüten, eine alte Erinnerung, die ihr kostbar war. Und was mein Vater gesagt hatte, stimmte auch: Es war nur natürlich, dass ihre Wahrnehmung durch ihre offenen Augen ins Werk übergehen musste, in die Malerei. Die Erinnerung mag irreal sein, aber das Talent sprengt den Zauberkreis der Gefühle und rückt ans Licht, was verborgen bleiben sollte. Das war eine Sache, die sogar Francesca, eigenwillig, wie sie war, nicht völlig im Griff hatte.
Vater und ich saßen also wie üblich jeder an einem Tischende. Von Gaetano und Cecilia sprachen wir nicht mehr, von Fabio schon gar nicht. Sein Name lag wie ein Kieselstein in meinem Mund, ein loses Stück, das nicht mehr hineinpasste. Wo dieser Kieselstein sich gelöst hatte, klaffte im Mantel der Erinnerung ein schwarzes Loch, eine unbehagliche und unsichere Leere. Aber das war ja voraus zu sehen. Und während wir aßen und der Mond wie eine Handvoll Wolle über dem Garten hing, suchte ich nicht krampfhaft irgendein Gesprächsthema, sondern erzählte ausführlich von der Muschelseide.
13. Kapitel
A m Morgen erschien Francesca zum Frühstück, in einem Morgenmantel, weiß und mit
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