Muschelseide
Tochter.«
»Wer ist Decima? «, murmelte sie.
Ich ließ es dabei bleiben, löschte die Lampe und ging.
Aus dem Salon drang ein blauer Lichtstreifen unter der Tür hervor. Mein Vater sah noch fern. Schön, dachte ich, das bringt ihn auf andere Gedanken. Ich ging in mein Zimmer und packte meine Tasche. Ich fühlte Unruhe in mir, sie hing mit dem zusammen, was Francesca mir gesagt hatte oder, genauer gesagt, mit dem, was sie mir nicht sagen wollte. Im Grunde stellten sogar ihre Bilder etwas dar, das sie gar nicht malen wollte. Ihre Aussage war von dem Gemalten so weit entfernt, wie die Träume, einmal geträumt, es werden. Wer sich ganz in der eigenen Wirrnis verlor, in den Gewässern unklarer Melancholie, mochte die Malerei als Gleichnis sehen – aber wofür? Vielleicht lag der Widerspruch der Gleichnisse eben darin, dass sie kein Wofür brauchten. In Francescas Malerei lebte eine Vergangenheit, sepiafarben wie eine alte Fotografie, die das Meer mit seinen Kampfschiffen zeigte. Ihre kleinen Hände, die den Pinsel führten, zitterten ein wenig in dringender Eile, denn nun war der Tod unmittelbar in ihrer Nähe, und das innere Bild verblasste, sank und löste sich auf in verschwommene Tiefen, wo Fische und Ertrunkene verwesten.
19. Kapitel
A uf der Fähre erzählte ich Kazuo, was ich von meinem Vater erfahren hatte. Wir saßen einander gegenüber, schlürften Kaffee aus Pappbechern. Draußen war das Licht tiefblau, Diamanten sprühten auf den Wellen. Ein feiner Schaumschleier bedeckte das glückliche Meer. Der Morgenwind wehte kalt, die Touristen standen am Heck in Daunenjacken, betrachteten die schaukelnden Klippen, blass-golden in der steigenden Sonne. Möwen segelten wachsam und erregt, die gierigen Schnäbel weit aufgerissen. Ich sagte:
» Ricardo sah die Familienehre befleckt, und auf diesem Terrain kann ich ihm ziemlich gut folgen. Weil in diesem Fall die Ehre ausgerechnet darin bestand, dass man auf Ehre verzichtete! Kadavergehorsam, ich hatte ständig dieses hässliche Wort im Kopf. Und bei Befehlsverweigerung das Kriegsgericht. Ricardo hätte am liebsten ein paar Zweige vom Stammbaum gerissen. Dabei war er ja noch gar nicht auf der Welt!«
»Du musst nicht denken«, meinte Kazuo nachsichtig, »dass es bei uns anders sein könnte. Schlecht Getanes würde ein japanischer Vater im Nachhinein als noch schlechter ansehen. ›Heldentod‹ klingt allemal erbaulicher als ›Rette sich, wer kann!‹«
Ich sagte, dass Ricardo Bücher besäße, die für ihn lesenswert sein könnten.
»Ich bringe ihn noch dazu, dass er dich in seiner Bibliothek stöbern lässt. Besuch wird ihm zur Abwechslung guttun. Er lebt ja wie ein Einsiedlerkrebs, oh, wie er mir auf die Nerven geht!«
»Übrigens habe ich im Internet gesucht«, sagte Kazuo, »und einiges zum Kontext erfahren. Die Lage war offenbar so, dass Deutschland und Österreich seit Ende 1917 eine große Offensive vorbereiteten, die im März 1918 begann. Worauf das britische Hauptquartier in Ägypten beschloss, so viele Soldaten wie möglich als Verstärkung nach Europa zu bringen. Die Transporte fanden von April bis Juni statt und wurden von japanischen Fregatten eskortiert. Von der Seekriegsführung verstanden wir einiges, wir hatten schließlich die russische Marine geschlagen. Bei fünf Transporten überstanden fünfundsechzig Schiffe unbeschadet die Reise, nur fünf gingen verloren. Im Ganzen waren es hunderttausend Soldaten, die unter japanischem Schutz von Afrika nach Europa befördert wurden. Auf diese Weise gelang es den Alliierten, dass der Krieg eine entscheidende Wendung nahm. Aber weil Japan im asiatischen Raum strategisch an Bedeutung gewann und sich auch in das Spiel der Kolonialherren mischte, machten sich die Großmächte – Amerika und Europa – Sorgen. Der Einfluss Japans im Fernen Osten musste unterbunden werden. Amerika schloss uns die Handelswege ab. Wir waren plötzlich nicht mehr das liebe Kind der Weltgeschichte und reagierten sauer. Was folgte, ist sattsam bekannt. Und da wir, wie es in jedem Krieg vorkommt, neben anständigen Leuten auch eine ganze Menge sadistischer Generäle und perverser Kompaniechefs hatten, spielen wir noch heute die Bösen in amerikanischen Filmen.«
Er nahm einen Schluck aus dem Pappbecher.
»Oh, der Kaffee ist schlecht. Sag mal, warum ging Francesca eigentlich nach Japan? Von den Seeleuten der Sakaki waren viele doch umgekommen.«
»Sie hatte Fotos machen lassen. Vielleicht, um den Familien zu zeigen, dass ihre
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