Muschelseide
mich fast blind. Ich drehte den Kopf hin und her, wischte die Tränen mit den Schultern fort.
»Verflucht, oh, verflucht!«
Er lag still, den Blick in die Ferne gerichtet. Schließlich sagte er in völlig nüchternem Ton:
»Man kann über Cecilia den Schlaf verlieren.«
Wir tauschten ein schwaches Lächeln, bevor er sich aufrichtete, die Arme um mich schlang, festhaltend, bergend. In seinen langsamen, trägen Bewegungen erkannte ich seine Erschöpfung. Stumm und innig streichelte er mein Haar. Als sich nach einer Weile seine Finger lösten, hob ich den Kopf und sah, dass er eingeschlafen war. Leise stand ich auf und ging aus dem Krankenzimmer. Draußen im Gang traf ich Lorenzo. Er sah mein verweintes Gesicht, nahm meine Hand, behielt sie fest in seiner.
»Du brauchst keine Angst zu haben, Beata. Der Chirurg hat gute Arbeit geleistet. Wir haben oft ähnliche Unfälle. Glaub mir, ich kenne das.«
Ich lächelte ihn dankbar an.
»Du machst mir Mut. Wie lange wird er im Krankenhaus bleiben müssen?«
»Ach, nicht lange. Zwei oder drei Tage vielleicht. Morgen kann er schon die ersten Schritte machen. Und sobald die Wunden geheilt sind, muss er in die Therapie.«
Er sah mich mitfühlend an.
»Du siehst entsetzlich aus!«
»Ich fühle mich auch entsetzlich.«
»Weil du Beachtliches geleistet hast. Und nichts gegessen hast.«
»Ich kann nichts essen. Mein ganzer Magen ist verkrampft.« »Komm!«, sagte er. »Nona wird sich gut um dich kümmern. «
Bis zu Lorenzos Haus waren es nur ein paar Schritte. Nona war bereits unterrichtet. Sie empfing mich, mütterlich besorgt, legte beide Arme um mich, führte mich ins Wohnzimmer. Weil ich mit den Zähnen klapperte, befahl sie mir, mich aufs Sofa zu legen. Sie schob mir ein Kissen unter den Kopf, breitete eine Decke über mir aus, in die ich mich schlotternd einwickelte. Inzwischen schlug Nona ein paar Eier in eine Pfanne, verrührte sie mit Pilzen und Speck. Der Salat stand schon in einer Schüssel bereit. Als Lorenzo und ich uns zu Tisch setzten – beide Jungen waren noch in der Schule –, spürte ich, wie ausgehungert ich war. Ich aß, als ob ich seit zwei Tagen gefastet hätte. Nona hatte ihr herrliches Brunnenwasser auf den Tisch gebracht. Lorenzo war ebenso ausgelaugt wie ich. Wir tranken nicht – wir soffen. Dann kochte Nona Kaffee und schnitt eine Pfirsichtorte an. Ich verschlang zwei große Stücke.
»Ich kann das verstehen«, sagte Lorenzo mit Nachdruck. »Was?«, fragte ich. »Was kannst du verstehen?«
»Dass du Nonas Pfirsichtorte magst.«
Ich lachte ein wenig. Und weil ich mich zunehmend besser fühlte, erzählte ich Nona und Lorenzo von dem, was ich gesehen hatte. Beunruhigende Unklarheiten ließ ich nicht zu, ich brauchte für alles hieb- und stichfeste Beweise. Ich glaube, das war der Grund, warum ich redete.
»Jetzt bin ich natürlich darüber hinweg, aber ich möchte meinen Seelenfrieden haben. Irgendwie erschüttert mich das Ganze sehr. Ich kann es nicht erklären. Was war es bloß? Eine Zwangsvorstellung? Eine übermäßige Reizbarkeit der Nerven?«
Doch vielleicht wusste Lorenzo die richtige Antwort. Er kannte die Ungerechtigkeit der Trauer, den Tod, der leise und erbarmungslos heranschlich. Niemand konnte ihn täuschen, er sprach ohne Pathos. Er besaß viel Lebenserfahrung.
»Denk nicht zu viel daran, Beata. Es gibt Dinge, die wir nicht im Griff haben. Ich habe schon oft bei Schwerkranken oder Sterbenden erlebt, dass sie die seltsamsten Dinge erzählen, bevor sie ganz ruhig werden und wie eine ausgebrannte Lampe verlöschen. Was ich damit sagen will: Es kann sein, dass wir in eine vertrackte Situation geraten und ein Ausweg nur möglich ist, wenn wir etwas Unvorhergesehenes auslösen. In solchen Momenten tut unser Gehirn immer von selbst das Richtige. Es kann unsere Rettung oder die Rettung eines Mitmenschen bedeuten.«
Nona nickte zu dem, was Lorenzo sagte. Ihre Augen waren so sanft wie ihre Stimme.
»Aber das können wir auch durch Beten erreichen. Es ist nicht Gott, der unsere Worte hört, es ist die eigene Kraft in uns.«
Sie stützte ihr rundes Kinn in beide Hände. Ihre großen, traumbefangenen Augen ließen nicht von mir ab.
»Wer einem Menschen das Leben rettet, übernimmt eine Verantwortung«, sagte sie mit ihrer verschleierten Stimme, die den Worten Zärtlichkeit und gleichsam eine Mahnung verlieh.
Und obwohl ich betroffen war, war es trotzdem das, was ich tief in mir selbst empfand. Meine Zweifel und Widersprüche lösten
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