Muss ich denn schon wieder verreisen?
Irene entgeistert. »Der ist ja noch richtig aktuell.«
Was es zu essen gegeben hatte, kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen, ich habe es nicht wahrgenommen. Ich weiß auch nicht mehr, ob ich entsetzt gewesen war oder nur schockiert, auf jeden Fall hatte es mir die Sprache verschlagen, denn eine Sabbatfeier hatte ich ganz anders in Erinnerung gehabt.
Jüdische Freunde meiner Mutter in Amsterdam, die zwar nicht zu den streng Orthodoxen gehört, aber trotzdem bestimmte Riten eingehalten hatten, hatten uns einmal zum Sabbatmahl eingeladen. Diese kleine Feier hatte mich damals sehr beeindruckt, nur hatte sie mit diesem geräuschvollenMassenauftrieb keine Ähnlichkeit gehabt. Hier saßen wild gestikulierende Männer zusammen, während neben ihnen ein anderer still betete; zwei Plätze weiter stopfte eine Mutter ihrem brüllenden Säugling Essen in den Mund, und gegenüber las jemand in einem kleinen Buch, das auf dem Tisch in einer Salatölpfütze lag.
Die ganze Szenerie mutete irgendwie unwirklich an, um nicht zu sagen gespenstisch, und das lag nicht nur an der Kleidung der meisten jüdischen Gäste. Wir hatten Zeit genug gehabt, uns an den Anblick dieser schwarzgekleideten Männer mit den breiten Hüten und den Schläfenlocken zu gewöhnen, obwohl es doch ein Unterschied ist, ob man sie im Fernsehen sieht oder ihnen auf der Straße begegnet; für uns Andersgläubige sehen sie nun mal seltsam aus. Vielleicht liegt es auch nur daran, daß die meisten von ihnen Europäer sind. Bei einem Araber finden wir seinen Burnus völlig normal, wir wundern uns höchstens, wenn er keinen Turban trägt.
»Bloß raus hier!« Irene legte ihr Besteck auf den geleerten Teller und stand auf. »Für den jüdischen Glauben habe ich eigentlich immer Sympathien gehabt, doch im Moment sind sie mir vergangen.«
Im Foyer fanden wir unseren Guide, die unvermeidliche Zigarette in der Hand. »Die anderen sind unten in der Kellerbar. Die ist judenfrei.«
»Seien Sie nicht albern, Menachem. Wir sind nicht vor Ihren Glaubensbrüdern getürmt, sondern vor dem infernalischen Radau, und in den Keller setzen wir uns bestimmt nicht. Zum Schlafengehen ist es aber noch zu früh. Was könnte man denn unternehmen?«
»Haben Sie Lust zu einem kleinen Spaziergang?«
Und ob. Menachem führte uns zu einem ganz versteckt liegenden Park, den wir allein nie gefunden hätten. Umgeben von dem Duft Tausender Blüten, schlenderten wir durch die Anlage und debattierten über die Unterschiede zwischen christlichen und jüdischen Religionen. Nachdem wir zu dem Schluß gekommen waren, daß keine die allein selig machende sein könne, wandten wir uns weniger brisanten Themen zu, zumal Irene eine Blume entdeckt hatte, die sie noch nicht kannte. »Da fällt mir etwas ein, Menachem. Würden Sie wohl morgen für mich ein Telefongespräch führen?« Es folgte die Geschichte von den dunkelgrau statt rosa blühenden Pflanzen, einschließlich Schilderung der elitären Kundschaft, und da habe ich unseren Guide zum erstenmal laut lachen gehört.
»Das erledigen wir gleich morgen nach dem Frühstück«, versprach er. »Wissen Sie denn, wo der Kibbuz liegt? Es gibt hier herum nämlich mehrere.«
»Die Adresse habe ich im Zimmer. Können Sie mir sagen, wie diese Pflanze heißt?« Sie beugte sich über ein unscheinbares Gewächs, das ich sofort der Kategorie Unkraut zuordnete. Für mich ist alles Unkraut, was kleiner als zehn Zentimeter und nicht ganz so klar zu identifizieren ist wie Veilchen oder Anemonen. Bei diesem verkannten Winzling hier handelte es sich allerdings um etwas Edles, das von Irene sofort ausgegraben wurde. Das dazu erforderliche Werkzeug in Gestalt eines Teelöffels, geklaut bei El Al, trug sie immer bei sich.
Jetzt war ich abgemeldet. Menachem entpuppte sich als Hobbygärtner, der mit Irenes Kenntnissen durchaus mithalten konnte, und was mir an lateinischen Namen um die Ohren flog, blieb ähnlich rätselhaft wie die hebräische Sprache. Doch vielleicht konnte ich mir bei ihm einen Rat holen, welche Pflanzen in unserem heimischen Garten eine gewisseÜberlebenschance haben würden. Irene hatte mir zwar mal Heidekraut empfohlen, aber dieses Gewächs findet man zu Allerheiligen auf jedem zweiten Grab, und wenn unter unserer Tanne auch zwei Goldhamster und ein Wellensittich die ewige Ruhe gefunden haben, so wollte ich nicht unbedingt den ganzen Garten auch äußerlich in einen Friedhof verwandeln. Vielleicht gab es ja in diesem teilweise recht kargen Land
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